Berlin. Die ukrainische Armee braucht Soldaten für die Front – und will nun Deserteure aus dem Ausland holen. Doch Berlin hält sich bedeckt.

In den deutschen Sicherheitsbehörden gibt es eine Sorge: Russland zermürbt die ukrainische Armee über die lange Distanz. Mit einer Masse an Panzern und Artillerie, wenn auch oft veraltet. Mit einer Menge an Soldaten, die Russlands Führung immer neu rekrutiert. Und genau das besorgt auch die ukrainische Regierung. Was, wenn dem viel kleineren Land an der Front die Soldaten ausgehen?

Kiew braucht Soldaten. Doch ein Teil der wehrfähigen Männer ist getürmt – oder wurde an der Flucht gehindert. Präsident Wolodymyr Selenskyj gab Zahlen bekannt: Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 stoppten ukrainische Grenzbeamte mehr als 20.000 Männer im wehrfähigen Alter, bevor sie aus dem Land fliehen konnten. Mehr als 14.000 von ihnen wurden festgenommen, 6200 erwischten sie mit gefälschten Ausreisepapieren. Viele versuchen die Flucht nach Rumänien oder in die Republik Moldau, viele schlagen sich über die „grüne Grenze“ oder die Karpaten durch.

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In der Ukraine floriert das Geschäft mit Freistellungen vom Wehrdienst, teilt die Regierung mit. Illegale Dokumente kosten auf dem Schwarzmarkt inzwischen oft 10.000 Euro. Die Polizei geht mit Razzien gegen Fahnenflüchtige und Hinterleute vor. Im Rückschluss bedeutet das aber auch: Nicht jeden Fahnenflüchtigen hat der Grenzschutz auch erwischt.

Geschäft floriert: 10.000 Euro für Freistellung vom Militärdienst

Laut EU halten sich in den europäischen Staaten mehr als 650.000 Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren auf, die meisten in Polen, Tschechien und Deutschland. Und Selenskyj will, dass die EU-Staaten diese mutmaßlichen Deserteure ausliefert. Das setzt die europäischen Verbündeten unter Druck, auch Deutschland. Doch in der Bundesregierung schweigt man zu dem Thema vorerst. Es liege keine offizielle Anfrage zur Auslieferung von Deserteuren aus der Ukraine vor.

Will Kriegsdienstverweigerer zurückholen: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
Will Kriegsdienstverweigerer zurückholen: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj © dpa | ---

Auch Zahlen zu mutmaßlichen Fahnenflüchtigen gibt es nicht. Das Verteidigungsministerium lässt eine Anfrage unserer Redaktion bisher unbeantwortet. Bekannt ist nur, dass seit Kriegsbeginn laut Bundesinnenministerium 203.640 männliche ukrainische Staatsangehörige nach Deutschland eingereist sind, die zwischen 18 und 60 Jahre alt waren – also wehrpflichtige Männer. Noch 176.474 von ihnen hielten sich Ende August in Deutschland auf. Wer davon illegal vor dem Kriegsdienst geflohen ist, bleibt unklar.

Die rechtliche Lage für Kriegsdienstverweigerer ist kompliziert. Erstmal steht es jedem Staat laut Völkerrecht zu, eigene Angehörige zum Dienst im Militär zu verpflichten. Doch es gibt eine Grenze: Macht sich eine Armee Kriegsverbrechen schuldig, ist Flucht legitim. Das hat 2015 der EU-Gerichtshof entschieden.

Rund 5600 russische Staatsangehörige stellten bislang Asylantrag

Die Richtlinie gilt auch in Deutschland, weshalb etwa russischen Deserteuren nach einer Einzelfallprüfung Asyl gewährt wird. Denn es gilt als erwiesen, dass die russische Armee Verbrechen in der Ukraine begeht. Schon der Angriff ist völkerrechtswidrig. In den ersten sieben Monaten 2023 stellten insgesamt gut 5600 russische Staatsangehörige einen Asylantrag in Deutschland. Das Gros der Prüfungen läuft noch.

Im Nachtzug: Drei ukrainische Soldaten auf dem Weg aus der Ostukraine nach Kiew.
Im Nachtzug: Drei ukrainische Soldaten auf dem Weg aus der Ostukraine nach Kiew. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Für die ukrainische Armee sind Kriegsverbrechen nicht systematisch zu erkennen. Damit ist das Recht von Kriegsdienstverweigerern auf Schutz in Deutschland begrenzt. Allerdings müssen die Menschen aus der Ukraine nicht durch eine Asylprüfung, sie bekommen per EU-Verordnung sofortigen Schutz – und einen Aufenthaltstitel. Für die Ausländerbehörden ist unerheblich, wer aus welchen Gründen aus der Ukraine geflohen ist. Es reicht, vor dem Krieg zu fliehen. Deserteur zu sein, ist zudem keine Kategorie, die im Ausländerzentralregister erfasst wird.

Für die Hilfsorganisation Pro Asyl dagegen ist klar: Jede oder jeder soll das Recht haben, Schutz vor Kriegsdienst in Deutschland zu erhalten. „Das Recht, Kriegsdienst zu verweigern, ist ein Menschenrecht“, sagt der flüchtlingspolitische Sprecher Tareq Alaows, der selbst aus Syrien geflohen ist. Er fordert die Bundesregierung auf, Menschen „sichere Fluchtwege“ zu ermöglichen, damit das Recht auf Schutz vor Krieg eine „realistische Alternative“ zum Kampf an der Front darstelle.

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