Köln. Wüst bereitet der Altkanzlerin bei der Staatspreis-Verleihung einen großen Bahnhof. Den machtpolitischen Reim muss sich jeder selber machen.
Ob diesmal das Handy in der Handtasche surrt, ist in Reihe 24 nicht zu vernehmen. Als Angela Merkel am Dienstagnachmittag in der Kölner „Flora“ den NRW-Staatspreis entgegennimmt, sind die Erinnerungen an ihren Auftritt an gleicher Stelle vor knapp acht Jahren direkt wieder präsent. Am 4. September 2015 hielt die Kanzlerin hier im Prachtbau des Botanischen Gartens die Festrede zum 70. Geburtstag der Landes-CDU. Während der 33-minütigen Ansprache versuchte ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann verzweifelt, sie auf dem persönlichen Mobiltelefon zu erreichen. Tausende Flüchtlinge wanderten da bereits in Ungarn über die Autobahn Richtung Alpenrepublik. Grenzen schließen oder offenhalten? Der Rest ist Geschichte.
Obwohl Merkels Politik des „Wir schaffen das“ inzwischen deutlich kritischer bewertet wird als damals in der ersten „Willkommenskultur“, hat Ministerpräsident Hendrik Wüst dieses Arrangement in der Kölner Flora bewusst gewählt. „Wir ehren heute eine starke Frau und ein großes Vorbild für viele Menschen“, wirft er sich vor der Altkanzlerin in den Staub. Die höchste Auszeichnung Nordrhein-Westfalens ging zwar bislang meist an verdiente Landeskinder, aber ein Ministerpräsident darf damit seit nunmehr fast 40 Jahren so verfahren, wie es ihm beliebt. Immerhin erwähnt Wüst an diesem Nachmittag das weitgehend unbekannten NRW-Spezifikum, dass Merkel einst in ihren Bonner Jahren gerne mit Ehemann Joachim durchs Siebengebirge gewandert sei.
Christine Lagarde als Laudatorin
Als gäbe es keine Debatte über Versäumnisse Merkels in der Russland-Politik, bei der Digitalisierung oder Energiewende, verpflichtet Wüst die 400 geladenen Gäste ultimativ zu großer Dankbarkeit: Für Merkels Kurs „in Richtung Stabilität, Europäische Einbettung und Weltoffenheit“.
Als Laudatorin hat die NRW-Staatskanzlei die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, gewinnen können. Sie schlägt in einer persönlichen Rede auf „die liebe Freundin Angela“ den ganz großen Bogen: von der Physikerin, die hinter dem eisernen Vorhang aufwächst und dann mit Fleiß, Bescheidenheit, moralischer Integrität und hoher Intelligenz zur Weltstaatsfrau aufsteigt. Auch die Flüchtlingskrise und den Kurs der offenen Grenzen serviert sie als Akt der Standhaftigkeit: „Für diese Entscheidung wurde Dir weltweit Anerkennung gezollt, im eigenen Land wurdest du aber scharf kritisiert. Du hast dich nicht beirren lassen.“
Wüst: „Das ist ja heute keine Heiligsprechung“
Wüst hatte am Morgen vorsorglich im Deutschlandfunk betont: „Das ist ja heute keine Heiligsprechung.“ In seiner Festrede klebt er später wie so oft am Manuskript, das weitgehend das auflistet, was man bei Angela Merkel-Ehrungen so abhandeln muss. Alles richtig, alles angemessen, alles schon hundertmal gehört. Dabei könnte Wüst Interessantes berichten, denn er saß ja schon als junger Mann seit 2002 in Merkels CDU-Bundesvorstand. Er hat sich immer auch an ihrer angeblichen „Sozialdemokratisierung“ der CDU gerieben. Mit der Flüchtlingspolitik hat Wüst sogar gehadert wie nur wenige im disziplinierten Kanzlerwahlverein CDU. Intern soll er damals den überzeugten Merkel-Adlatus Armin Laschet in Düsseldorfer Gremiensitzungen immer wieder zur Umkehr gedrängt haben. Kein Wort dazu in der „Flora“. Nur dem Deutschlandfunk antwortet er in der Live-Situation auf eine Frage nach seinem Wackeln in der Flüchtlingskrise: „Oh doch, ich habe später schon auch immer wieder daran gezweifelt.“
Spannend wäre auch gewesen, die persönlichen Beweggründe Wüsts zu erfahren, ausgerechnet jetzt Merkel die große Bühne zu bereiten. Ein Signal der Abgrenzung zur Merz-CDU?Parteichef Friedrich Merz soll zwar eingeladen worden sein, wird aber in Köln nirgendwo in der Nähe des roten Teppichs gesehen, um seine herzliche Abneigung gegenüber Merkel auf offener Bühne mit Selbstdisziplin zu kontrollieren. Ist diese Ehrung also auch ein Versuch Wüsts, sich in die Traditionslinie Merkels zu stellen? Die Vollendung einer Neuerfindung als schwarz-grüner Landesvater mit Sinn für Mehrheiten? Ein erstes Aufzeigen gar im Kampf um die Kanzlerkandidatur in der Union? Es bleibt der Interpretation der anschließenden Büffetgespräche überlassen.
Merkel lieferte beruhigenden Merkel-Sound
Wer erwartet hatte, dass Merkel erstmals eine kritische Reflexion ihrer Regierungsjahre liefern würde, wird ebenfalls enttäuscht. Sie liefert im beruhigenden Merkel-Sound, den man fast ein wenig vermisst hat in den letzten anderthalb Jahren, ein wenig Lokalkolorit („Bonn war mehr als ein Arbeitsort für mich“). Freundlich bedankt sie sich bei der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker dafür, dass die Kommunen 2015 so viele Flüchtlinge aufgenommen hätten.
Für Wüst ist die Veranstaltung am Ende dennoch ein beachtlicher Erfolg. Sicherstes Indiz: CSU-Chef Markus Söder, möglicherweise ein weiterer Aspirant in der K-Frage, will Merkel am 21. Juni den Verdienstorden Bayerns überreichen.