Essen. „Die Sprache ist der Schlüssel“, sagt Ayla Çelik. Der Schlüssel zum Leben, zur Teilhabe, zur Verwandlung von Träumen in Wirklichkeit.
Ayla Çelik (52) ist die neue Chefin der größten Bildungsgewerkschaft in NRW. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wählte die Kölnerin am Freitag mit 93 Prozent der Delegierten-Stimmen zur Nachfolgerin von Maike Finnern, die den Bundesvorsitz der GEW übernommen hat.
„Die Sprache ist der Schlüssel“, sagt Ayla Çelik. Der Schlüssel zum Leben, zur Teilhabe, zur Verwandlung von Träumen in Wirklichkeit. Die Gewerkschafterin weiß sehr genau, wovon sie spricht. Vor 41 Jahren saß sie, gerade aus Ostanatolien zugewandert, in der „Willkommensklasse“ einer Hauptschule im Rheinland, umgeben von anderen Kindern, die nicht oder kaum Deutsch sprachen. „Du ziehst in die Fremde, verlässt die Freunde, du verlierst als Kind alle Bindungen“, erinnert sie sich.
Stück für Stück raus aus der Sprachlosigkeit
Ayla Çelik hat sich Stück für Stück aus dieser Situation und aus der Sprachlosigkeit heraus gelernt. Weil sie es unbedingt wollte, und weil ihr Lehrer in ihrer Freizeit halfen, sie ins Theater mitnahmen, an Buchstaben, Worten und Sätzen feilten. Die junge Ayla betrat einen steinigen Weg: Von der Haupt- in die Realschule, ins Gymnasium und zum Studium in Köln (Lehramt Deutsch und Biologie und einige Semester Medizin). Sie war Referendarin an einer Hauptschule in Düren, Realschullehrerin in Köln, Mitglied der Schulleitung einer Gesamtschule, Gewerkschafterin, Vize-Gewerkschaftschefin und ist jetzt Vorsitzende.
Mit Rollenspielen gegen Vorurteile
Theater und Rollenspiele gehören zu den Leidenschaften der Kölnerin. Sie hat das szenische Spiel genutzt, um Schüler-Vorurteile abzubauen. Da nimmt der „Türke“ die Rolle des „Kurden“ ein und umgekehrt. Da soll der, der so gerne Pommes ist, den Döner in höchsten Tönen loben. Motto: Versetz‘ dich in die Rolle des anderen. „Kinder“, sagt Çelik, „kommen nicht mit Vorurteilen auf die Welt. Sie lernen sie von den Erwachsenen.“
Es gebe so viele junge Talente in diesem reichen Land, die es nicht nach oben schafften, weil es dem Staat nicht gelinge, sie richtig zu fördern. Das ginge besser findet sie. Hier steht, was Ayla Çelik über die NRW-Schulpolitik denkt:
Zur Bildungsgerechtigkeit:
Ihre Begeisterung dafür, in Kindern die schlummernden Talente zu wecken und scheinbar vorgezeichnete Lebensläufe durch Bildungschancen zu bereichern und zu wandeln, ist zugleich der Motor ihrer gewerkschaftlichen Arbeit. „Ich möchte, dass Bildungsbiografien nicht länger von der Postleitzahl abhängig sind“, betont die neue Vorsitzende der GEW in NRW. Seit Jahren habe ihre Gewerkschaft gefordert, dass Schulen in sozialen Brennpunkten besser ausgestattet werden. „Nun wird ein schulscharfer Sozialindex eingeführt, doch der wird nicht funktionieren“, sagt Çelik. Die Landesregierung schaffe keine zusätzlichen Stellen dafür, Personal werde lediglich umgeschichtet.
Wenn es NRW ernst meine mit Bildungsgerechtigkeit, dürfe auch eine Debatte um das dreigliedrige Schulsystem nicht tabu sein. „Die frühe Aufteilung der Kinder in verschiedene Schulformen ist falsch“, findet Celik. An dem Leitbild des „längeren gemeinsamen Lernens“ hält sie daher fest. „Wir leben in einer diversen Gesellschaft, das sollte sich auch in der Schule widerspiegeln. Was macht uns da Angst?“
Zur Pandemie
Die Corona-Pandemie habe die Schwachstellen des Bildungssystems offengelegt. Vor allem sozial benachteiligte Kinder hätten unter den Schulschließungen gelitten. Nun gehe es darum, Lernrückstände aufzuholen. „Wir müssen eingreifen, damit die soziale Schere nicht noch weiter auseinandergeht.“ Doch nütze es wenig, jetzt bloß Vokabeln oder Formeln zu pauken, meint sie. „Die Kinder brauchen Zeit, Aufmerksamkeit und Betreuung, um ihre sozialen Kompetenzen wiederzuerlangen.“
Zur Schulpolitik
Die GEW-Vorsitzende wirft der Landesregierung vor, nach den Sommerferien 2020 keine klaren Konzepte für Kitas und Schulen entwickelt zu haben, etwa für ein Stufenmodell für den Wechsel- oder Distanzunterricht je nach Corona-Inzidenzwerten. Auch sei die Kommunikation zwischen dem Schulministerium und den Pädagogen vor Ort häufig miserabel gewesen.
Die Politik habe es in den vergangenen Jahren versäumt, die Situation an Kitas und Schulen spürbar zu verbessern. „Es fehlen Lehrkräfte, es fehlen Erzieherinnen, es fehlt die Technik, es fehlen Studienplätze und Kitaplätze“, zählt sie auf. Sie fordert eine bessere Bezahlung für Erzieherinnen und Grundschul-Lehrkräfte, die Gehaltsstufe A13 müsse für die Beschäftigten aller Schulformen eingeführt werden. „Das wäre ein Zeichen der Anerkennung für die wichtige Aufgabe der Pädagogen.“