Essen. Experten sagen einen Bedarf von weiteren 322.000 Heimplätzen voraus. Zugleich verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage der Heime.
Pflegeheime und ambulante Pflegedienste stehen aktuell vor riesigen Herausforderungen. Denn Deutschland altert und braucht in den nächsten Jahren Hunderttausende neue Heimplätze in der Altenpflege. Gleichzeitig hat sich die wirtschaftliche Lage der insgesamt über 15.000 Pflegeheime weiter verschlechtert. „Pflege wird teurer werden, und wir müssen alles tun, um diese Verteuerung abzumildern“, sagt Prof. Boris Augurzky, Gesundheitsexperte beim Essener RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Gemeinsam mit anderen Akteuren aus der Pflegebranche hat das RWI am Montag den bundesweiten Pflegeheim-Rating-Report vorgestellt. Ein Überblick.
Mit wie vielen Pflegebedürftigen rechnen die Experten?
Bei konstanter Pflegequote rechnen die Studienautoren mit bundesweit 4,9 Millionen Pflegebedürftigen bis zum Ende dieses Jahrzehnts, 2040 könnten es sogar 5,6 Millionen Betroffene sein. Hauptgrund ist die Alterung der Gesellschaft. Vor allem die Generation der Babyboomer, also die Jahrgänge um 1960, erreicht in den nächsten beiden Jahrzehnten das Hochbetagtenalter. Aktuell sind rund 4,1 Millionen Menschen pflegebedürftig (Stand 2019), darunter 818.000 stationär.
Wie viel Heimplätze brauchen wir in Zukunft?
Die Experten beziffern den zusätzlichen Bedarf an stationären Pflegeplätzen bis 2040 auf 322.000. Bei einer zusätzlichen Professionalisierung der Pflege fiele der Bedarf noch deutlich höher aus. Der Ausbau der ambulanten Pflege würde den Bedarf allerdings verringern. Für den Ausbau der Heimplätze wären Investitionen in Höhe von 81 bis 125 Milliarden Euro nötig. Dies sei ohne privates Kapital kaum zu bewältigen.
Wie ist die wirtschaftliche Situation der Pflegeheime?
Seit 2016 hat sich die wirtschaftliche Lage der Heime kontinuierlich verschlechtert. Im jüngsten Untersuchungsjahr 2019 stand ein Fünftel aller Einrichtungen unter dem Druck erhöhter Insolvenzgefahr. Ihre Finanzen im „grünen Bereich“ hatten lediglich 42 Prozent der Heime. Verschlechtert hat sich auch die Ertragslage: 2016 schrieben nur rund zehn Prozent der Heime Verluste, drei Jahre später waren bereits 26,5 Prozent in die roten Zahlen gerutscht.
Unterscheidet sich die Lage von Bundesland zu Bundesland?
Ja, erheblich. Ursache könnten die unterschiedlichen Vorschriften und Pflegeheimgesetze in den Ländern sein, so die Experten. Finanziell besonders schlecht geht es Heimen in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen. Auch in NRW ist die Lage angespannt. 33 Prozent aller Einrichtungen an Rhein und Ruhr erwirtschafteten 2019 keinen Überschuss oder machten Verluste. Ostdeutschen Heimen geht es dagegen wirtschaftlich besser, dies gilt dort besonders für Einrichtungen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft. In Sachsen etwa schlossen nur 14 Prozent aller Heime das Geschäftsjahr 2019 ohne Gewinne ab.
Wie groß ist der Fachkräftemangel in der Pflege?
Schon heute werden Pflegekräfte händeringend gesucht. Doch der Fachkräftemangel wird sich in den nächsten Jahren noch deutlich verschärfen. Die Studienautoren warnen vor einer „riesigen Personallücke“, die auf die Altenpflege in Deutschland zukommt. Um die steigende Zahl an Pflegebedürftigen zu versorgen, müssten bis 2040 allein im stationären Bereich 163.000 bis 380.000 zusätzliche Vollzeitjobs geschaffen werden. In der ambulanten Pflege gehe es um weitere 97.000 bis 183.000 Kräfte.
Wie können so viele zusätzlichen Pflegekräfte gewonnen werden?
In erster Linie müsse es darum gehen, Pflegeberufe attraktiver zu machen, schreiben die Experten. Nötig dazu seien höher Löhne, ein besseres gesellschaftliches Ansehen des Berufs, eine gute Vereinbarkeit von Job und Familie sowie möglichst wenig Bürokratie und bessere Karrierechancen. Ziel müsse zudem sein, die Verweildauer im Pflegeberuf zu verlängern, die wöchentliche Arbeitszeit bei Teilzeitkräften auszuweiten und neue Auszubildende zu gewinnen. Einig sind sich die Fachleute auch darin, dass der Personalmangel ohne qualifizierte Zuwanderung nicht zu lindern ist.
Was ist mit den die Einnahmen aus der Pflegeversicherung?
Zuletzt stiegen die Einnahmen aus der Pflegeversicherung. Bis zum Ende des Jahrzehnts rechnen die Pflege-Experten sogar mit einem Anstieg der Rücklagen auf über 30 Milliarden Euro. Doch diese Kapitalreserve ist nach den Berechnungen blitzschnell wieder aufgezehrt - spätestens 2035. Geschieht bis dahin nichts, wird die Pflegeversicherung binnen weniger Jahre in ein zweistelliges Milliarden-Minus rutschen. Langfristig müsse es daher zu mehr Einnahmen kommen, heißt es in dem Report. Als Allheilmittel gilt die Erhöhung der Versicherungsbeiträge. Doch auch eine höhere Erwerbsquote und ein höheres Renteneintrittsalter würden helfen. Dringend raten die Experten zudem dazu, den „inzwischen recht steile Wachstumspfad der Ausgaben“ zu verlassen. Mehr Prävention und Reha-Angebote sowie neue technische Assistenzsysteme könnten überdies dazu beitragen, den Pflegebedarf der alternden Bevölkerung und damit die Kosten insgesamt zu reduzieren.