Essen. Das Preiswert-Ticket ist ein voller Erfolg. Doch nun stellt sich die Frage, ob es ab September eine Nachfolgeregelung geben kann.
Pünktlich zum Start in den zweiten Monat des 9-Euro-Tickets ab Juli nimmt die Debatte über eine Anschlussregelung für die stark rabattierte ÖPNV-Sonderaktion der Bundesregierung immer mehr Fahrt auf. „Wir erwarten von der Politik eine klare Perspektive über die finanziellen Möglichkeiten, damit die Verkehrsverbünde über die künftige Tarif-Strategie verhandeln können“, sagte Lothar Ebbers, NRW-Sprecher des Fahrgastverbandes Pro Bahn der WAZ.
Verlängerung des 9-Euro-Tickets „organisatorisch“ machbar.
Hubert Jung, Verkehrsvorstand der Dortmunder Stadtwerke und Vizepräsident des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen VDV, hält eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets „organisatorisch“ für machbar. Entscheidend sei aber die Frage der Finanzierung, die einzig und allein die Politik beantworten könne.
„Wer über Verlängerungen oder Nachfolge-Aktionen nachdenkt, muss zwingend die Frage beantworten, wie diese auskömmlich finanziert werden. Andernfalls würde man die Verkehrsunternehmen wirtschaftlich schädigen und so das Thema Verkehrswende in Gefahr bringen“, sagte Jung dieser Redaktion.
Finanzminister sieht keine Spielräume
Nach einer Verlängerung der Aktion durch den Bund sieht es trotz zahlreicher Forderungen aus der Politik und von Verbänden derzeit freilich nicht aus. Bundesverkehrsminister Volker Wissing und Bundesfinanzminister Christian Lindner (beide FDP) hatten unter Verweis auf die Kosten von monatlich rund einer Milliarde Euro zuletzt Erwartungen deutlich gedämpft, dass es für das 9-Euro-Ticket und den Tankrabatt im September eine Anschlussregelung geben könnte. Auch Pro-Bahn-Sprecher Ebbers rechnet nicht mit einer direkten Anschlusslösung nach dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets Ende August.
365-Euro-Jahresticket nach Wiener Vorbild?
Die Forderungen nach einer dauerhaften Entlastung von ÖPNV-Kunden reißen derweil nicht ab. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) und die Linke im Bundestag machen sich dafür ebenso stark wie die Verbraucherzentralen. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch brachte ein 365 Euro-Jahresticket nach Wiener Vorbild ins Gespräch. Die Chefin des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Jutta Gurkmann, fordert ein 29-Euro-Monatsticket.
Niedersachsens Verkehrsminister Bernd Althusmann (CDU) sprach sich für ein bundesweit gültiges, vergünstigtes Nahverkehrstickets aus. Auch die Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang hatte Hoffnungen auf eine Nachfolgeregelung geschürt.
Pro Bahn sieht auch die neue NRW-Regierung am Zug
Pro-Bahn-Sprecher Lothar Ebbers sieht indes auch die neue schwarz-grüne NRW-Regierung am Zug. Im Koalitionsvertrag versprechen CDU und Grüne eher allgemein „einen preiswerten ÖPNV für alle“, wollen vergünstigte Tarifangebote für Schüler, Azubis, Freiwilligendienstleistende, Berufspendler und Senioren als E-Ticket testen lassen. Es werde darauf ankommen, wie viel Geld das Land selbst für ein besseres ÖPNV-Angebot in die Hand nehme, so Ebbers.
Was also kommt nach dem 9-Euro-Ticket? Diese Frage treibt derzeit nicht nur viele ÖPNV-Kunden um, sondern auch die Verkehrsunternehmen. Denn trotz abschreckender Bilder von überfüllten Regionalbahnen, genervten Fahrgästen und überfordertem Zugpersonal besonders an den ersten Juni-Wochenenden kann man der Rabattaktion der Bundesregierung wohl kaum den Erfolg absprechen.
"Europaweit größtes Experiment im ÖPNV"
Selbst Skeptiker, die das für nur drei Monate aus dem Boden gestampfte Entlastungspaket der Berliner Ampelkoalitionäre wahlweise als Schnellschuss oder Verschwendung von Steuergeldern kritisiert hatten, nehmen inzwischen den Druck aus dem Kessel.
„Das 9-Euro-Ticket ist das europaweit wahrscheinlich größte Experiment im öffentlichen Nahverkehr überhaupt“, räumte zuletzt VRR-Vorstandsmitglied José Luis Castrillo im Gespräch mit dieser Redaktion ein. Als Branche habe man sich zwar gewünscht, die vom Bund dafür bereitgestellten 2,5 bis 3 Milliarden Euro nachhaltiger verwenden zu können, so der Manager des europaweit größten Verkehrsverbundes Rhein Ruhr. Die Rabattaktion habe aber ihre mediale Wirkung nicht verfehlt.
Stark im öffentlichen Fokus
Auch Hubert Jung äußert sich zufrieden. „Die Resonanz ist überwiegend positiv, die Fahrgäste verteilen sich gut im Netz. Außerdem sehen wir es positiv, dass der ÖPNV derzeit so stark im öffentlichen Fokus steht und viele Menschen das 9-Euro-Ticket als Möglichkeit nutzen, den Nahverkehr auszuprobieren“, sagte Jung.
Bisher 21 Millionen verkaufte Tickets
Die Zahlen jedenfalls sprechen für sich: 21 Millionen 9-Euro-Tickets wurden nach Angaben des VDV bisher bundesweit verkauft. Allein beim VRR waren es mehr als 1,8 Millionen. Der Verbund rechnet damit, dass die Nachfrage in den nächsten Wochen hoch bleibt und stellt sich auf viele Reisende ein, die auch in den Ferien mit dem 9-Euro-Ticket unterwegs sind.
Inzwischen kann man von einem regelrechten Boom der „Öffis“ sprechen, den das 9-Euro-Ticket ausgelöst hat. Seit dem Start am 1. Juni nutzen etwa elf Prozent mehr Menschen öffentliche Verkehrsmittel als im Mai. Das berichtet der „Spiegel“ unter Berufung auf Handydaten im Umfeld von Bahnhöfen und Haltestellen, die Google ausgewertet hat. In NRW stiegen die Zahlen demnach sogar um 14 Prozent. Der Verkehrsdatenspezialisten Tomtom will zudem einen Rückgang des Stauniveaus in 23 von 26 untersuchten Städten im Vergleich zur Zeit vor Einführung des Tickest festgestellt haben.
Kaum neue Abokunden gewonnen
Ob sich diese Trends verstetigt und das 9-Euro-Ticket das Mobilitätsverhalten tatsächlich nachhaltig verändert, ist allerdings ungewiss. Neue Abokunden konnte der VRR trotz intensiver Werbung in Zusammenhang mit dem Rabattticket bisher jedenfalls kaum gewinnen. Möglich, dass viele Nutzer darauf warten, was nach dem Auslaufen der Aktion am 31. August geschieht.
Der Haken an der Sache: Mit dem 9-Euro-Ticket ist der sprichwörtliche Geist erst einmal aus der Flasche. Zur alten, aus Kundensicht deutlich teureren Nahverkehrswelt zurückzukehren, dürfte schwer werden.
Entlastung von Stammkunden
Fakt ist auch: Das 9-Euro-Ticket ist wie der Tankrabatt und das Energiegeld Teil des Paketes, mit dem die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger angesichts explodierender Lebenshaltungskosten zeitlich befristet entlasten wollte. Das ist durchaus gelungen. Denn gerade ÖPNV-Stammkunden profitieren von dem Rabatt. Schüler, Studierenden, Pendler und Senioren zahlen für ihre sonst deutlich teureren Monatstickets drei Monate lang jeweils ebenfalls nur neun Euro. Laut VRR spart eine Durchschnittsfamilie im Ruhrgebiet über den gesamten Aktionszeitraum dadurch zwischen 300 und 400 Euro. Nach VDV-Angaben kommen bundesweit zehn Millionen Dauerkunden in den Genuss der Entlastung.
Der Preis allein ist nicht entscheidend
Was aber muss passieren, wenn der Nahverkehr dauerhaft günstiger werden soll? Und: Kommt es darauf überhaupt an? Vertreter der ÖPNV-Branche wie Stadtwerke-Manager Hubert Jung sind skeptisch. Jung glaubt, dass man Menschen dauerhaft nur über ein attraktives Angebot für den ÖPNV begeistert - und weniger über den Preis: „Entscheidend für den Umstieg sind schnelle Verbindungen, attraktive Takte, moderne Fahrzeuge, gute Fahrgastinformation und insgesamt ein gutes Gefühl zum Beispiel bei Sicherheit und Sauberkeit.“
ÖPNV schon bei normalen Ticketpreisen defizitär
Der VDV-Vize weist zudem auf das grundlegende Problem der Nahverkehrs-Finanzierung hin: „Der ÖPNV ist schon bei den normalen Ticketpreisen immer ein defizitäres Geschäft“, sagt er. Heißt: Ticket-Einnahmen reichen nicht aus, um Fahrzeuge, Personal und Infrastruktur kostendeckend zu finanzieren. Die Finanzierungslücke wird in der Regel durch direkte Zuschüsse der Kommunen oder eine Quersubventionierung durch Gewinne anderer kommunale Betriebe etwa aus dem Energiesektor ausgeglichen.
Allein bei den Dortmunder Stadtwerken liegt dieser so genannte Verkehrsverlust in diesem Jahr bei rund 87 Millionen Euro. Nicht mitgerechnet die aktuell stark steigenden Energiekosten und die im Falle preiswerter Tickets sicher notwendigen Investitionen für mehr Busse, Stadtbahnwagen und Regionalzüge. Jung: „In dieser Situation jetzt Rabattaktionen ohne solide Gegenfinanzierung auf den Weg zu bringen, hätte eine verheerende Wirkung für uns und die ganze Branche.“
Pro Bahn warnt davor, dass Tickets noch teurer werden könnten
Auch der Fahrgastverband Pro Bahn baut übertriebenen Hoffnungen auf dauerhaft billigere Tickets im Stile des 9-Euro-Tickets vor und warnt stattdessen davor, dass Tickets eher noch teurer werden könnten. NRW-Sprecher Lothar Ebbers: „Wenn es keine Kompensation für die gestiegenen Energiekosten gibt, wird das ÖPNV-Angebot entweder ausgedünnt oder wir erleben Tarifsprünge, wie wir sie schon lange nicht mehr hatte, jenseits von drei Prozent.“ Das wäre sogar doppelt kontraproduktiv, so Ebbers: „Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass nach dem Ende der Rabattaktion das Geld dafür wieder durch erhöhte Tarife eingetrieben wird.“