Brüssel.. Große Ehre in schweren Zeiten: Die EU wird am Montag ausgezeichnet – für das jahrzehntelange Bemühen um Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte. In Brüssel löst das bisher kaum Begeisterung aus. Doch der Preis lässt die Europäer verstärkt über ihren Zusammenschluss nachdenken.
Am Montag erhält die Europäische Union (EU) den Friedensnobelpreis. Vielleicht knallen dann die Sektkorken. Seit der Ankündigung im Oktober schäumt in Brüssel niemand über vor Freude angesichts dieser Auszeichnung. Die EU ist schließlich im „Krisen-Modus“. Und doch: Manchmal ploppt das Thema „Friedensnobelpreis“ unverhofft auf.
Zum Feiern ist im Brüsseler EU-Viertel in diesen Wochen kaum jemandem zumute. Vielleicht haben die Mitarbeiter der Europäischen Kommission und des EU-Parlaments das Feiern aber auch verlernt. Zu viel ist in Europa ins Rutschen geraten. Zu schwer wiegt die bisher größte Bewährungsprobe des europäischen Projekts eines in Frieden geeinten Kontinents. Politiker und Bürger werden spürbar europamüder.
Am 12. Oktober, als die Welt von der neuen Friedensnobelpreisträgerin erfährt, bleiben in Brüssel alle nüchtern. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso spricht zwar in einer ersten Reaktion von großen Gefühlen, zeigt sie aber nicht. „Es hat keine besonderen Festivitäten gegeben“, erinnert sich ein Kommissionssprecher. Und auch keinen Sekt. Dann fügt er rasch und fast pflichtbewusst hinzu: „Aber große Freude, gepaart mit Überraschung.“
EU wurde immer wieder als Kandidatin für den Preis gehandelt
Die EU wurde immer mal wieder als Kandidatin gehandelt. Jetzt erhält sie ausgerechnet in Krisenzeiten den Friedensnobelpreis. Er sei nicht nur „Anerkennung“, sondern auch „Ansporn“, heißt es Brüssel. Ansporn und Aufmunterung brauchen die gebeutelten Europäer dringend. Inzwischen zweifeln einige sogar offen daran, dass die Europäische Union die Vertrauens- und Schuldenkrise übersteht.
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In diesen Monaten reiht sich in Brüssel ein Krisentreffen ans andere. Teils bis zum frühen Morgen diskutieren die Politiker, um die Griechenland-Rettung wieder einmal zu vertagen. Oder die Einigung um den EU-Haushalt. Oder einen Beschluss zur geplanten europäischen Bankenaufsicht. Lauter wichtige Vorhaben, die im Klein-Klein des Streits zwischen Staaten stecken bleiben.
Doch dabei darf man eines nicht übersehen. Die Politiker der 27 EU-Staaten streiten sich zwar teils heftig. Doch sie kämpfen mit Worten für ihre Ziele, nicht mehr mit Waffen. Das ist eine große Errungenschaft. In den vorigen Jahrhunderten tobten fürchterliche Kriege in Europa, allein im 20. Jahrhundert der erste und der zweite Weltkrieg. Millionen Menschen kamen elend um. Diese Zeiten sind seit mehr als 60 Jahren vorbei, auch dank des politischen und wirtschaftlichen Zusammenrückens der Europäer.
Ein Krieg ist derzeit nicht vorstellbar in der EU
„Die Europäische Union hat den Kontinent mit friedlichen Mitteln vereint und Erzfeinde zusammengebracht“, sagt der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz. „Diese historische Leistung wird zu Recht anerkannt.“
Ein Krieg ist derzeit nicht vorstellbar in der EU: Wer so eng verflochten ist und miteinander Handel treibt, haut sich nicht mehr die Köpfe ein – zu viel steht auf dem Spiel. Der Friedensnobelpreis erinnert die Europäer daran.
Einer von ihnen muss daran nicht erinnert werden: Jean-Claude Juncker, Luxemburgs Regierungschef und Chef der Eurogruppe, die die Finanzminister der Euro-Länder umfasst. Der altgediente Europäer hat bereits 2005 einen großen Satz gesagt, der bis heute gültig ist. „Wer zweifelt, wer auch an Europa verzweifelt - wer täte das nicht in diesen Tagen? -, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen“, sagte Juncker damals auf einem solchen Gräbermeer. „Dort kann man sehen, wozu das Nicht-Europa, das Gegeneinander der Völker, das nicht miteinander wollen, das nicht miteinander können, führen muss.“
Gegenwärtig geht Juncker – einer der wenigen Politiker, die kein Blatt vor den Mund nehmen – hart mit seinen Amtskollegen ins Gericht. Nachdem im November ein Gipfeltreffen zum EU-Budget der nächsten Jahre scheitert, lässt Juncker seinem Ärger freien Lauf. „Regierungschefs kommen nach Brüssel und vertreten nationale Positionen“, wettert er. „Einige, fast alle, haben Zahlen im Kopf. Und selten sind die geworden, die Überzeugungen im Herzen haben.“
Die EU ohne Großbritannien - für Merkel unvorstellbar
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich auf besagtem Budget-Gipfel mit dem britischen Premierminister Cameron einer Einigung verweigerte, gilt nicht unbedingt als europäische Überzeugungstäterin. Doch im November zeigt Merkel im EU-Parlament, dass sie nicht nur die „Madame No“ in Europa geben kann. Dazu bedarf es aber erst eines britischen EU-Abgeordneten, der als notorischer Europagegner bekannt ist. Nigel Farrage bittet Merkel: „Sagen Sie Cameron: 'Verlassen Sie die EU'. Cameron hat nicht den Mut dazu.“
Großbritannien gilt generell als europaskeptisch. Die Briten sehen die EU vor allem als Riesenmarkt für Waren und Dienstleistungen. Das sorgt bei all jenen seit Jahrzehnten für Stirnrunzeln, die nicht nur die wirtschaftliche Union stärken wollen, sondern auch die politische.
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Angesichts Farrages Aufforderung wird die sonst eher nüchterne Merkel erstaunlich emotional. „Ich möchte ein starkes Großbritannien in der Europäischen Union“, ruft sie dem Briten und den anderen EU-Abgeordneten zu. „Großbritannien war dabei, als wir vom Nationalsozialismus befreit wurden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Großbritannien nicht zur EU gehört.“
Auch den Euro, die gemeinsame Währung der Europäer, verteidigt die Kanzlerin ungewohnt flammend: „Sie ist ein Symbol für ein Europa der Freiheit, des Wohlstands und des Fortschritts.“ Merkel weiß genau, was in der Krise auf dem Spiel steht. Es gehe darum, „das Glück der europäischen Einigung für unsere Kinder zu bewahren“.
Europa ist ein "Jahrhundert-Friedensprojekt"
Merkel ist 1954 geboren, nur neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Ihr ist der verheerende Krieg noch gut in Erinnerung, der die Europäer erst auseinander riss und dann doch zusammenführte. Die Ostdeutsche erlebt Europa als Friedensunion. Diese Idee ist Merkel und ihrer Generation viel näher als denen, die später geboren sind.
Das wird deutlich, als in Brüssel Philipp Rösler und Volker Bouffier aufeinander treffen. Der 1973 geborene Bundeswirtschaftsminister (FDP) und der 1951 geborene Ministerpräsident Hessens (CDU) gehören nicht nur zwei Parteien an, sondern auch zwei Generationen. Bouffier ist wenige Jahre nach dem Krieg geboren. „Europa ist und wird immer ein Jahrhundert- und Friedensprojekt sein“, sagt er unter Verweis auf Hunger, Not und Vertreibung nach Kriegsende. „Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Europa verkürzt wird auf Finanztechnologie.“
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Rösler und seine Altersgenossen dagegen kennen nur ein geeintes friedliches Europa, das die Grenzkontrollen strich und sich eine gemeinsame problembehaftete Währung gab. Den Weltkrieg und den Friedensnobelpreis erwähnt der Liberale, der mit europakritisch-populistischen Äußerungen auffiel, in Brüssel nicht. Stattdessen redet Rösler von „seiner Generation“, die neue Gründe brauche, um für das europäische Mammut-Projekt zu entflammen. „Wir nehmen es viel zu häufig und viel zu selbstverständlich hin, dass es eine Europa-Begeisterung gibt.“ Er fordert: „Eine Diskussion über Europa darf keine Diskussion über Institutionen sein, sonst ist es gleich verloren.“ Man müsse „ein bisschen das Emotionale betonen“. Rösler schafft das nicht.
Das Projekt EU entweder stoppen oder "die Nationalstaaten abschaffen"
Dagegen gelingt es wortgewaltig einem 1954 geborenen Österreicher. Der Schriftsteller Robert Menasse wollte, so erzählt er an einem November-Abend in Brüssel, in der EU-Hauptstadt für einen Roman recherchieren. Doch er versank in der Krise, forschte nach ihren Ursachen und Auswüchsen.
Friedensnobelpreise
Dass die EU ein Friedensprojekt sei, sei nur die „halbe Wahrheit“. Die „ganze Wahrheit“, zumindest aus Sicht Menasses: Mit der EU entsteht nach und nach ein völlig neues politisches Gebilde. Europa durchlebe keine Finanz-, sondern eine politische Krise. Der wohne ein Widerspruch inne: Die Staaten müssten eine politische Union errichten – und sich damit praktisch abschaffen.
Der Schriftstelle sieht nur zwei Möglichkeiten: „Man stoppt das Projekt und zerschlägt die EU. Oder man geht weiter und die Nationalstaaten sterben ab.“ Menasse wünscht sich den zweiten Weg. „Europa kann nun zeigen, dass das Projekt einen Sinn hat und den Friedensnobelpreis verdient.“ Der Schriftsteller erhält viel Applaus in Brüssel. Kein Wunder: So begeistert hat hier schon lange niemand mehr für Europa geworben.