Essen/Bonn. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel hat Verständnis für die Schneetouristen: „Man kann den Menschen nicht dauerhaft die Freiheiten nehmen.“
Trotz Warnhinweisen und Gesundheitsrisiken hatten sich nach den ersten Schneefällen Tausende in die Wintersportgebiete im Sauerland aufgemacht. Erst ein massiver Polizeieinsatz und Straßensperren konnten dem Zustrom ein Ende setzen. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel kann indes nichts Verwerfliches an diesem Verhalten finden. Er sieht im Gegenteil die Versäumnisse bei der Politik. Man hätte die Skigebiete mit passenden Konzepten auf den erwartbaren Ansturm vorbereiten und die Menschen besser informieren müssen.
Prof. Gabriel, was treibt die Menschen trotz der Gesundheitsrisiken dazu, in Massen in die Skigebiete zu fahren?
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Markus Gabriel: Es ist doch klar, dass man die Menschen nicht dauerhaft einsperren kann. Aus moralischer Sicht muss man zwar alles tun, um die Infektionsketten zu durchbrechen. Das nenne ich den virologischen Imperativ. Das muss aber in ein vernünftiges Verhältnis gesetzt werden mit anderen Anforderungen und Bedürfnissen. Nach einem Jahr, in dem den Menschen viele Freiheiten genommen wurden, ist es selbstverständlich, dass sie Ventile suchen und ein menschenwürdiges Leben haben wollen. Mich hat der Ansturm im Sauerland nicht überrascht.
Fehlt es den Menschen an Verantwortungsgefühl, wenn sie den eigenen Spaß in den Vordergrund stellen?
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Der Spaß ist doch Teil des Verantwortungsgefühls. Denn moralisch handeln, heißt ja nicht nur, zu Gunsten anderer zu handeln, sondern auch, sich selbst Gutes zu tun und sich zu helfen. Dazu gehört zum Beispiel, aus einer womöglich inakzeptablen Familiensituation auf engem Wohnraum einmal auszubrechen. Corona ist nicht unser einziges Problem, die anderen moralischen Probleme dürfen wir nicht vergessen. Denn ist ja so, dass die Pandemie noch mindestens zwei Jahre andauern wird, mit mal größeren, mal kleineren Wellen. Es wäre eher unmoralisch, von den Menschen zu verlangen, so lange zu Hause bleiben.
Den Urlaubern wird allerdings unsoziales und unmoralisches Verhalten vorgeworfen...
Die Beschimpfungen der Menschen finde ich inakzeptabel. Immer soll jemand schuld sein an der Ausbreitung des Virus. Die Chinesen, die Partygänger, die Schulkinder, die Sommerurlauber, die Österreicher, die Schweizer und jetzt die Winterurlauber. Diese Schulddebatte ist angesichts einer Naturkatastrophe völlig falsch. Außerdem war es nicht illegal, in die Skigebiete zu fahren.
Gefährden die Menschen mit diesem Verhalten nicht die Gesundheit anderer?
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Wenn ich die Hygienevorschriften beachte, mich testen lasse und angemessen verhalte, dann ist das Risiko, sich bei einem Skiurlaub ein Bein zu brechen sicher größer, als an Covid-19 zu erkranken. Ich halte es für absurd, die Menschen pauschal daran zu hindern, in den Schnee zu fahren. Es ist nicht riskant, mit Kindern über eine einsame Schneewiese zu wandern.
Halten Sie die Coronamaßnahmen also für überzogen?
Nein, nur nicht für angemessen differenziert. Die Strategie der Politik ist es, mit pauschalen Verboten irrationales Verhalten zu verhindern. Doch solche pauschalen Verbote sind moralisch teils inakzeptabel, wenn man etwa Ausgangssperren für Menschen verhängt, die dadurch depressiv werden oder unter häuslicher Gewalt leiden müssen. Man kann das Verhalten von 83 Millionen Deutschen nicht pauschal kontrollieren. Die Regierung müsste feinkörnigere Maßnahmen beschließen und diese den Menschen besser erklären. Ansonsten könnte es irgendwann dazu kommen, dass die Menschen rebellieren. Warum gab es vor dem ersten Schneefall keine Konzepte für die Skigebiete? Darauf hätte man sich vorbereiten können.
Hatten Sie nicht zuvor formuliert, dass die gemeinsame Bedrohung durch das Virus die Menschen moralisch zusammenschweißen würde?
Ich sehe das Verhalten der Tagestouristen im Sauerland nicht als Verstoß gegen das moralische Gebot, sondern als Aufforderung, die Verbote gezielter und kleinteiliger zu formulieren und besser zu erklären. Statt pauschal viele Freiheiten zu beschränken, um die Pandemie zu bekämpfen, sollte man der Frage nachgehen, wie man möglichst viele Freiheiten erhalten und zugleich die Pandemie bekämpfen kann. Aus meiner Sicht haben die Menschen nicht verwerflich gehandelt.
Müssen wir lernen, auf lange Sicht mit Einschränkungen umzugehen?
Es ist eine grobe Illusion zu glauben, 2021 hört alles auf. Wir werden nicht zu den Vor-Pandemie-Zeiten zurückkehren können. Deshalb müssen wir uns mehr Gedanken über Hygienekonzepte machen und uns besser auf die kommenden Wellen vorbereiten.
>>>> Zur Person:
Markus Gabriel lehrt seit 2009 an der Universität Bonn. Er ist Leiter des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie , Philosophie der Neuzeit und Gegenwart und des Internationalen Zentrums für Philosophie. Der 40-Jährige gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Denker der Gegenwart.
Aufsehen erregte er mit seinen Büchern „Der Sinn des Denkens“ (2018) und „Fiktionen“ (2020). Jüngst erschien sein Werk „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten – Universale Werte für das 21. Jahrhundert“, in dem er angesichts der Corona-Krise seine Thesen zu einer „neuen Moral“ und einer „neuen Aufklärung“ ausführt.