Düsseldorf. Mit Skepsis beobachtet die Opposition die Corona-Öffnungsschritte in NRW. Forscher glauben aber, Lockern sei jetzt möglich.
NRW-SPD-Chef Kutschaty glaubt, dass die ab Freitag geltenden weitreichenden Lockerungen in NRW zu früh kommen.
„Wir dürfen bei all den Corona-Maßnahmen, die wir getroffen haben, nie den Ursprungsgedanken vergessen, der uns dabei geleitet hat: nämlich die vulnerablen Gruppen zu schützen, also die Kranken und Älteren. Dabei sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, an dem sich viele Freiheitsbeschränkungen nicht mehr rechtfertigen lassen", sagte Kutschaty dieser Redaktion.
SPD: "Lockerungen sind jetzt nicht das richtige Signal"
Dennoch hält er den Umfang der Lockerungen "in diesem Maße noch für verfrüht". Die Auswirkungen der Delta-Variante ließen sich noch nicht wirklich abschätzen. Vor allem für die noch nicht geschützten Kinder sollten wir weiterhin große Vorsicht walten lassen. "Daher kann ich nur an alle appellieren, so sorgsam wie möglich mit den neuen Möglichkeiten umzugehen. Zudem könnten die jetzt beschlossenen Lockerungen in meinen Augen auch kontraproduktiv für die Impfkampagne sein. Gerade jetzt, wo eine Art Impfmüdigkeit um sich zu greifen scheint, ist das zurzeit noch nicht das richtige Signal“, erklärte Kutschaty.
Ähnlich hatte sich zuvor SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gegenüber dem WDR geäußert: "Wir sind in einer Phase, in der die Fallzahlen wieder steigen und sich der Impffortschritt verlangsamt. Der Zeitpunkt der Lockerungen hat mich überrascht. Ich hätte einen späteren Zeitpunkt besser gefunden." Der SPD-Politiker erwartet als Konsequenz aus den Lockerungen eine größere Gefahrenlage im Herbst. Lauterbachs Rat: "So viel wie möglich draußen machen und drinnen vorsichtig sein: Maske tragen und Abstand halten."
Grünen-Landeschef: "Ist es klug, derart umfänglich zu lockern?"
Ähnlich skeptisch kommentiert Grünen-Landesvorsitzender Felix Banaszak die Lockerungs-Entscheidungen der Landesregierung. „Wir alle sehnen uns nach fast eineinhalb Jahren Pandemie nach Geselligkeit und menschlicher Nähe. Dass dieser nachvollziehbare Wunsch nicht einfach weg geht, sondern eher stärker wird, nehme ich natürlich auch bei mir persönlich wahr. Es ist gut, dass deshalb einiges möglich ist, was über lange Zeit gefehlt hat", sagte der Duisburger dieser Redaktion.
Gleichzeitig sei aber zu sehen, dass die Inzidenzen europaweit wieder steigen, dass der R-Wert in Deutschland aktuell wieder über 1 liege und dass die Zahlen aus Israel vermuten lassen, dass die Impfstoffe gegen die Delta-Variante nicht so stark wirkten wie erhofft. "Ich habe Zweifel, ob es klug ist, in diese Lage hinein derart umfänglich zu lockern. Woher die Idee kommt, erst dann zu reagieren, wenn die Inzidenz über acht Tage hinweg steigt, ist mir ein Rätsel. Die zentrale Erkenntnis der letzten 15 Monate ist doch, dass es immer klüger ist, rechtzeitig und nicht erst verspätet Maßnahmen zur Eindämmung zu ergreifen", so Banaszak.
Die Pandemie sei, so der Grünen-Politiker, schlicht und ergreifend noch nicht vorbei, die Gefahr einer vierten Welle sei real, auch wenn die gefühlte Lage gerade eine andere sei. "Angesichts dieser Situation den Menschen zu erzählen, das Leben finde ab sofort wieder im Normalmodus statt, halten wir für verfrüht", sagte Banaszak. Nach wie vor sollten Abstandsregeln beachtet, Masken getragen und viele Tests durchgeführt werden.
Epidemiologe Karl-Heinz Jöckel hält die Öffnungen für vernünftig
Der Epidemiologe Prof. Karl-Heinz Jöckel beurteilt die Lage anders als die Oppositionspolitiker. Der stellvertretender Leiter des Instituts für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie in Essen sagte über die Lockerungen: „Ich halte den Schritt für sehr vernünftig.“ Zwar sei die Delta-Variante des Virus nach bisherigem Wissen deutlich infektiöser, jedoch gebe es bislang keine Hinweise auf eine erhöhte Sterblichkeit oder auf einen Anstieg der Behandlungszahlen in den Kliniken. „Wir gehen in NRW nach meiner Auffassung die richtigen Schritte“, so Jöckel. „Wenn die Infektionszahlen gering bleiben, müssen wir uns vor der Delta-Variante nicht fürchten.“
Die Aufhebung aller Beschränkungen wie in Großbritannien sieht der Wissenschaftler hingegen skeptisch. „Als Epidemiologe wäre ich da vorsichtiger.“ Man müsse abwarten, wie viele „Wembley-Infizierte“ es geben wird. „Die Strategie ist mit Risiken verbunden“, sagt Jöckel. „Aber auch ein Lockdown hat gesundheitliche Nebenwirkung für viele Menschen“, gibt er zu bedenken.
Virologe Jörg Timm: "Lockerungen sind jetzt vertretbar"
Mit Blick auf Großveranstaltungen, Hochzeitsfeiern und Schützenfeste beobachtet Prof. Jörg Timm, Direktor des Instituts für Virologie des Uniklinikums Düsseldorf, das Tempo der derzeitigen Öffnungsschritte „mit einer gewissen Sorge“. Dennoch seien die beschlossenen Lockerungen bei den aktuell niedrigen Infektionszahlen und Behandlungsfällen im Krankenhaus vertretbar. „Das sollte aber kontrolliert und schrittweise erfolgen“, so Timm. „Ich hoffe sehr, dass die Menschen mit den Öffnungsschritten verantwortungsvoll umgehen.“
Für eine Bewertung, ob das Land trotz der sich ausbreitenden Delta-Variante wieder zum normalen Leben zurückkehren könne, ist es aus Timms Sicht noch zu früh. „Es sieht aktuell so aus, dass eine vollständige Impfung mit hoher Sicherheit vor einem schweren Infektionsverlauf auch mit der Delta-Variante schützt“, sagte der Mediziner dieser Redaktion. Unbekannt sei aber derzeit noch, wie häufig die Delta-Variante von geimpften Personen weiterverbreitet werden kann.
Timm geht davon aus, dass die Infektionszahlen aufgrund der höheren Ansteckungsfähigkeit der Delta-Variante wieder ansteigen werden. „Die Gefahrenlage hängt aus meiner Sicht sehr stark davon ab, ob wir unsere Impfziele erreichen“, betont der Virologe.