Ruhrgebiet. Frau Müller ist Mitte 30 und liebt ihren Beruf als Krankenpflegerin – trotzdem gibt sie ihn jetzt auf. Warum, erzählt sie hier.

Der Widerspruch ist für die junge Frau im Café kaum aufzulösen. Wenn sie von ihrem Pflegeberuf im Krankenhaus spricht, leuchten ihre Augen. Sie nennt die Pflege den schönsten Beruf, den sie auch nach 15 Jahren als examinierte Kranken- und Gesundheitspflegerin in einem Krankenhaus im Ruhrgebiet immer wieder für sich wählen würde. Und doch hängt sie genau diesen Beruf an den Nagel.

„Ich bin an meine absoluten Grenzen und darüber hinausgekommen“, sagt die Mittdreißigerin. „Die körperlichen und psychischen Belastungen sind so hoch, dass die Konsequenzen ernsthafte Behandlungsfehler sind.“

Rückmeldungen von Pflegekräften sind „alarmierend“, so Verdi

Seit Jahren beklagen Gewerkschaften die steigende Belastung der Pflegekräfte. Sie habe solch eine Schwere erreicht, dass immer mehr Fachkräfte dem Beruf zumindest teilweise verloren gehen: Aus den Kliniken etwa gebe es immer häufiger die Rückmeldung, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeiten reduzieren, sagt Jan von Hagen, Gewerkschaftssekretär bei Verdi NRW. Oft habe es geheißen, die Pandemie wolle man noch durchhalten, aber dann sei man weg. Konkrete Zahlen dazu gibt es nicht. Aber: „Die Rückmeldungen, die wir erhalten, sind alarmierend“, sagt der Gewerkschaftssekretär.

Die junge Frau am Bistrotisch gehört zu jenen, die der Pflege künftig fehlen. Sie betont, dass sie einen guten Arbeitgeber gehabt habe und dass es Geschichten wie ihre überall an Kliniken gebe. Damit sie offen sprechen kann, nennen wir sie Frau Müller.

Stress im Alltag: Eine ganze Schicht ohne einen Schluck zu trinken

Frau Müller arbeitete in verschiedenen Bereichen. Teams seien über die Jahre kleiner geworden, Stellen nicht nachbesetzt worden. Statt wie anfangs die Verantwortung für zehn Patienten und Patientinnen zu tragen, seien es zuletzt bis zu 16 gewesen. Es gebe auch Stationen, auf denen eine Pflegekraft 21 Menschen zu versorgen habe und jeder zweite von ihnen medizinische Überwachung und Pflege brauche, „demente, inkontinente, kürzlich operierte Menschen“, sagt Müller. „Da kann es passieren, dass jemand drei Stunden nichts zu trinken bekommt, weil die Schwester nicht die Zeit hat, bei ihm vorbeizuschauen.“

Sie spricht über Stress im Alltag, über Frühschichten, in denen man nicht jeden hilfebedürftigen Menschen morgens beim Waschen unterstützen könne, weil dann die Zeit zur Medikamentengabe und Behandlungspflege anderswo fehle. Oft habe die schlanke Frau einen Patienten selbst gehoben, weil sie auf eine Kollegin nicht warten konnte. Vorgeschriebene Dokumentationsarbeit werde meist im Laufen gemacht, weil Zeit zum Hinsetzen fehle. Häufig müsse sie erstmals zum Feierabend zum ersten Mail zur Toilette, weil sie eine ganze Schicht lang nichts getrunken habe.

Corona machte die Arbeit in der Pflege noch intensiver

Und sie erzählt von Fehlern: Patienten und Medikamente seien verwechselt worden, wenn es mal wieder schnell gehen musste. „Man schläft schlecht und geht schon mit Bauchschmerzen zur Arbeit, weil die nächste Schicht schlimmer werden könnte als die letzte.“ Müller sagt, vor der Pandemie habe sie vieles mit ihrer Freizeit kompensieren können. Mit dem Virus sei der Ausgleich weggebrochen.

Zugleich wurde die Arbeit intensiver: Müller war in der zweiten Welle auf einer Station im Einsatz, auf der Covid-19-Infizierte isoliert und behandelt worden sind, die noch keine intensivmedizinische Hilfe benötigten. „Meine persönliche Hölle“, sagt sie.

„Fließbandarbeit“ auf der Corona-Station

Sie spricht von „Fließbandarbeit“, der Arbeitsrhythmus in Schutzkleidung sei trotz höherem Personalschlüssel kaum zu schaffen gewesen. Besonders zugesetzt haben ihr aber die Todesfälle. „Wenn jemand gestorben ist, kam schon der nächste“, sagt sie. Sterbebegleitung sei kaum möglich gewesen. „Nichts davon war das, warum ich Krankenschwester geworden bin.“

Sie sei kalt und negativ geworden, sagt Müller. Zu Hause habe sie es noch vom Bett zum Bad und zurückgeschafft, war isoliert. „Ich habe viel geweint. Nach eineinhalb Monaten bin ich zusammengebrochen.“

Frau Müller kündigte und entschied sich für einen Bürojob. Kein einfacher Schritt für sie: Es heiße immer, die Pflegekräfte kriegten das schon hin, sagt sie. Das tue man auch, aber zu welchem Preis? „Wir zahlen mit unserer Gesundheit, unserem Privatleben und büßen Lebensqualität ein.“ Sie sagt, dass sie der Pflege nie ganz verloren gehen werde. Menschen bei der Genesung zu helfen, sie zu versorgen, all das wolle sie gern weiter tun. „Ich glaube, es gibt Tausende wie mich, die ihren Beruf lieben und die wiederkommen würden, wenn die Bedingungen stimmen.“