Essen. Sozialgerichte in NRW schieben immer noch einen hohen Bestand offener Verfahren vor sich her. Nun drohen viele Klagen infolge der Pandemie.

Der Präsident des Landessozialgerichts in NRW rechnet mit einer Klagewelle infolge der Corona-Pandemie. „Auf uns wird eine Belastungswelle zurollen“, sagte Martin Löns am Freitag in Essen. Um dem Aufkommen von Sozialrechtsklagen Herr zu werden, brauche es mehr Personal.

Konkret sei zu erwarten, dass Verfahren um die Grundsicherung für Arbeitssuchende zum Jahresende zunehmen werden. In der Pandemie seien gesetzliche Regelungen geschaffen worden, die es zulassen, Leistungen unter erleichterten Bedingungen gegebenenfalls vorläufig zu erhalten.

Long-Covid-Patienten suchen bei Sozialverbänden bereits Rechtsberatung

Der Rattenschwanz komme mit der endgültigen Überprüfung auf das Anrecht der bereits ausgegebenen Gelder, warnte Löns. „Da werden eine ganze Menge Klagen auf uns zukommen, die auch einen höheren Zeitaufwand haben“, prognostizierte er.

Hinzu kämen erwartbare Streitigkeiten zur Versicherungspflicht bei Covid-19-Erkrankungen und zu Leistungen für Corona-Patienten mit Langzeitfolgen. Diese Fragen treten schon jetzt vermehrt bei den Sozialverbänden auf: Der VdK in NRW und auch der Sozialverband Deutschland (SOVD) berichten am Freitag von einem ersten Zustrom an Long-Covid-Geschädigten.

Weniger neue Verfahren, aber eine etwas längere Verfahrensdauer

Die Pandemie habe die Arbeit in den acht NRW-Sozialgerichten insgesamt stark geprägt, sagte Löns bei der Vorstellung des Jahresberichts in Essen. Zwar konnte der Gerichtsbetrieb aufrechterhalten werden. Doch es haben wegen der Schutzmaßnahmen nur halb so viele Sitzungssäle zur Verfügung gestanden, im Lockdown seien zudem nur äußert dringliche Verfahren verhandelt worden.

In der Folge haben die Richter an den acht Sozialgerichten mit 84.126 Verfahren etwa zehn Prozent weniger Klagen abgearbeitet. Zugleich wurden mit 84.386 Verfahren aber auch zehn Prozent weniger neue Eingänge registriert. Mit im Schnitt 13,6 Monaten mussten Kläger 2020 etwas länger auf eine Entscheidung warten als im Vorjahr (12,6 Monate). Nur rund die Hälfte der Verfahren wurde innerhalb von zwölf Monaten entschieden.

Sozialgerichte schieben Bestand in „besorgniserregender Höhe“ vor sich her

Damit schieben die Sozialgerichte landesweit weiterhin einen gewaltigen Berg unerledigter Verfahren vor sich her: Rund 101.390 Klagen blieben 2020 offen, ein seit 2018 historisch hoher und aus Sicht des Präsidenten am Landessozialgericht besorgniserregender Bestand, der vor allem auf Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen zurückzuführen ist. Diese Streitigkeiten machten 2020 immer noch mehr als jeden fünften neuen Fall an den Sozialgerichten aus (19.351 Eingänge) und beschäftigten etwa 80 Mitarbeiter und Richter an den Sozialgerichten. NRW hat mit gut 1000 Beschäftigten die größte Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland. Zuständig sind die Gericht für Klagen etwa zu Arbeitslosengeld, Kranken- und Rentenversicherung oder Arbeitsunfällen.

Die Prüfungen liefen in erheblichem Umfang, es geht um Verweildauern bei stationären Behandlungen, die Frage tatsächlich erbrachter Leistungen und ob Entgelte korrekt ausgezahlt worden sind. Zu dem hohen Aufkommen kam es 2018, weil der Gesetzgeber bundesweit Fristen verkürzt hat.

Kassen-Streitigkeiten: „Webfehler im System“

Löns sprach von einem „Webfehler im System“. Versicherte trügen über ihre Beiträge die Kosten an den Verfahren in Höhe von „Hunderten Millionen Euro“. Hinzu kämen die Kosten für den Steuerzahler. „Hier muss eine Lösung gefunden werden, damit Kassen und Klinikträger diese Streitigkeiten außergerichtlich klären“, forderte Löns. Er brachte Mindestgrenzen für Streitwerte ins Spiel, um Hürden zu schaffen.

Um allein den jetzigen Bestand von 101.390 offenen Verfahren abzuarbeiten, benötige es grob geschätzt mindestens eineinhalb Jahre. Hinzu kommen laufend neue Eingänge. Zehn zusätzliche Richter, die andere Gerichtsbarkeiten zur Bewältigung der Abrechnungsstreitigkeiten ausgeliehen hatten, werden in diesem Jahr wieder abgezogen.

Ärger um unbesetzte Spitzenposition im Landessozialgericht

Für massiven Ärger am Landessozialgericht sorgt, dass die Position der Vize-Präsidentschaft seit zwei Jahren unbesetzt ist. Es gebe mehrere Bewerber, deren Eignung aber noch diskutiert werde. „Es sollte die Aufgabe eines Ministeriums sein, seinen Geschäftsbereich richtig zu versorgen“, kritisierte Löns, seit 2019 Präsident des Landessozialgerichts mit rund 185 Beschäftigten. „In Zeiten der Pandemie ist die Besetzung dieser Spitzenpositionen dringend notwendig.“