Düsseldorf. Durchmarsch, Extrarunde, Neuwahlen: Vor der Wahl des Laschet-Nachfolgers am Mittwoch im Landtag werden diese drei Szenarien diskutiert.

Es dürfte die spannendste Landtagssitzung seit Jahren zu werden: Die Fraktionen von CDU und FDP wollen am Mittwoch um 13 Uhr (live im WDR-Fernsehen und auf landtag.nrw.de) Verkehrsminister Hendrik Wüst zum neuen Ministerpräsidenten und Nachfolger des gescheiterten Kanzlerkandidaten Armin Laschet wählen, der als Bundestagsabgeordneter nach Berlin wechselt. Die Koalition verfügt im Düsseldorfer Parament exakt über die erforderliche absolute Mehrheit von 100 Stimmen, was in einer geheimen Abstimmung Risiken birgt. Seit 2005, als Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) bei vergleichbarer Ausgangslage in siebeneinhalb Stunden und vier Wahlgängen immer wieder durchfiel, fürchtet insgeheim jeder Kandidat den anonymen „Heide-Mörder“ in den eigenen Reihen. Auf den Landtagsfluren wird über mehrere Szenarien diskutiert.

Szenario 1: Wüst wird im ersten Wahlgang gewählt

Es gilt als wahrscheinlichste Variante, dass die 72 CDU- und 28 FDP-Abgeordneten Wüst im ersten Wahlgang die erforderliche absolute Mehrheit bescheren. Der Verkehrsminister war zwar nie Wunsch-Regierungschef aller, doch knapp sieben Monate vor der Landtagswahl ist die Not zu groß für Spielereien. Die CDU leidet am historischen Debakel bei der Bundestagswahl, an Laschets Sturz in die Bedeutungslosigkeit und am atemberaubenden Niedergang in den NRW-Umfragen. Vorgezogene Neuwahlen wären in dieser Lage ziemlich verrückt. Selbst frustrierte Abgeordnete, die in ihren Wahlkreisen nicht mehr aufgestellt werden, nehmen wohl lieber noch bis Mai die monatlich über 10.000 Euro Diäten mit.

Auch die FDP, die derzeit besser da seht und im Bund längst zur „Ampel“ rübergemacht hat, kann an einem jähen Ende der schwarz-gelben Regierungsarbeit kaum Interesse haben. Man definiert sich seit 2017 als eigenständige „NRW-Koalition“ und will mit Regierungserfolgen wuchern. Zu Wochenbeginn waren zwar ein Krankheitsfall und ein Beinbruch zu beklagen, aber beim „Zählappell“ am Mittwoch um 11.30 Uhr sollen alle 100 Abgeordnete von CDU und FDP willens und in der Lage sein, für Wüst zu stimmen.

Szenario 2: Wüst wird im zweiten Wahlgang gewählt

Die nordrhein-westfälische Verfassung schreibt nur im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit vor. 199 Abgeordnete sitzen zurzeit im Landtag, deshalb müssen CDU und FDP zunächst alle ihre 100 Stimmen auf die Waage bringen. Im zweiten Wahlgang würde jedoch die einfache Mehrheit reichen. Das heißt: Wüst müsste mehr Ja- als Nein-Stimmen bekommen, Enthaltungen oder nicht abgegebene Stimmen würden nicht berücksichtigt. Die SPD-Politikerin Hannelore Kraft wurde so 2010 zur Ministerpräsidentin einer Minderheitsregierung gewählt. Rot-Grün hatte damals nur 90 Abgeordnete und die Opposition aus CDU, FDP und Linkpartei 91; durch die Enthaltung der mutmaßlich elf linken Parlamentarier im zweiten Durchgang reichte es für Kraft.

„Denkzettel“ im ersten Wahlgang sind nie auszuschließen. Der eine oder andere schwarz-gelbe Abgeordnete könnte Wüst in der Einsamkeit der Stimmkabine in die Extrarunde schicken. Der 46-jährige Münsterländer hat sich seit Tagen bemüht, niemanden im eigenen Lager zu verärgern. Alle Minister wurden über den grünen Klee gelobt. Jeder Abgeordneter bekam eine rhetorische Einzelmassage. Nichts soll nach Bruch mit dem „System Laschet“ aussehen. Wüst überraschte sogar mit der Ankündigung, Laschet-Vertraute wie Staatskanzleichef Nathanael Liminski und Regierungssprecher Christian Wiermer weiterbeschäftigen zu wollen. Das Problem eines zweiten Wahlgangs: Wüst ginge beschädigt in die kurze Bewährungsfrist bis zur Landtagswahl im Mai.

Szenario 3: Neuwahlen

Drei Gruppen von Abgeordneten können eigentlich kein Interesse an vorgezogenen Neuwahlen haben: Die CDU-Parlamentarier im aktuellen Umfragetief, die fraktionslosen Abgeordneten (früher AfD) ohne Perspektive auf Wiedereinzug in den Landtag und CDU/FDP-Abgeordnete im Ministerrang, die erst nach fünf vollen Dienstjahren Anspruch auf üppige Pensionen haben. Sollte Wüst dennoch im ersten Wahlgang durchfallen, dürfte Oppositionsführer Thomas Kutschaty (SPD) umgehend einen Antrag auf Landtagsauflösung und vorgezogene Neuwahlen stellen. Argumentation: Schwarz-Gelb hat keinen Rückhalt mehr im Parlament. Kutschatys SPD steht aktuell in Umfragen so gut da wie lange nicht, der kommende SPD-Kanzler Scholz als Wahlhelfer in den Startlöchern und die Kampagne kurz vor der Fertigstellung.

Der Landtag kann sich laut Verfassung mit einfacher Mehrheit selbst auflösen. Scheitert Wüst im ersten Wahlgang, dürfte der öffentliche Druck auf CDU und FDP groß werden, den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Schwarz-Gelb würde sich wohl zunächst in eine Besinnungspause retten: Zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang dürfen zwei Wochen liegen. Nach einer Landtagsauflösung muss dann innerhalb von 90 Tagen ein neues Parlament gewählt werden. In NRW würden die Bürger somit nicht erst am 15. Mai 2022 zur Urne gerufen, sondern bereits Anfang des neuen Jahres.