Duisburg. Das Innenministerium arbeitet an einer Reform des Bezirksdienstes – und wird dabei mit neuen Realitäten konfrontiert.
Die Mietshäuser ohne Namensschilder an den Briefkästen sind besonders schlimm. Für eine unbezahlte Rechnung von 20 Euro müssen sie oft achtmal hin, um den Schuldner ausfindig zu machen. Weil in den Wohnungen mehr Menschen leben als gemeldet. Oder die gemeldeten schon wieder weg sind. Unbekannt verzogen.
„Vollstreckungshilfe“ nennt sich das im Amtsdeutsch. „Postbote spielen und Klingelmännchen machen“, sagen die Bezirksbeamten der Duisburger Polizei. Es ist ein Dilemma: Einerseits rechtfertigt ein solches Vergehen keinesfalls den Aufwand, andererseits kann der Rechtsstaat über offene Rechnungen nicht einfach hinwegsehen. Außerdem: Sind die Bezirksbeamten, die „Dorfsheriff“ genannt werden, nicht auch für solche Botengänge da?
"Ihre Präsenz steigert das Sicherheitsgefühl der Menschen"
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) ist am Montagmittag in die kleine Wache nach Duisburg-Rheinhausen gekommen, um sich einmal genau mit dieser Einsatzrealität der Polizei vertraut zu machen. Der 69-Jährige hat seit seinem Amtsantritt viel Geld und Personal in die technische und kriminalistische Aufrüstung der Landespolizei gesteckt. Das Verbrechen wird immer digitaler und schreit nach Experten des Landeskriminalamtes und der großen Polizeidirektionen. Das Sicherheitsgefühl vieler Bürger entscheidet sich jedoch an der Frage, ob man auf der Straße einen Uniformierten sieht.
„Ihre Präsenz steigert nicht nur das Sicherheitsgefühl der Menschen. Ihr wacher Blick kann auch dabei helfen, dass ein Stadtteil, ein Straßenzug sich nicht in eine falsche Richtung entwickelt“, sagt Reul den Beamten, die im Innenhof der Wache einen Halbkreis um ihn gebildet haben. Bis Jahresende solle eine Landesarbeitsgruppe ein Konzept zur „Stärkung des Bezirksdienstes“ vorlegen, das Reul am liebsten noch vor der Landtagswahl im Mai 2022 auf den Weg bringen würde.
In NRW gibt es rund 2000 Bezirksbeamte
In NRW gibt es rund 2000 Bezirksbeamte: Rein rechnerisch soll ein „Dorfsheriff“ auf 10.000 Einwohner kommen. Diese Einsatzkräfte seien „das Schweizer Taschenmesser des Polizeidienstes“, sagt Ulrich Heuke, der die Landesarbeitsgruppe leitet. Sie sind jeden Tag zu Fuß auf Streife in ihrem Viertel. 80 Prozent Außendienst. Die Zuständigkeit reicht von der Verkehrsüberwachung bis zur Vollstreckung von Haftbefehlen.
Allerdings hat sich das Berufsbild seit der letzten Landesreform vor elf Jahren gewandelt. Außerdem könne man den Dienst in Rheinhausen nicht mit jenem in Kleve vergleichen, findet Reul. Die einen sind mehr Sozialarbeiter und schnelle Eingreiftruppe, die anderen Kummerkasten und Gesicht der Staatsgewalt auf dem Land.
Deshalb soll nun systematisch über Aufgaben, Ausrüstung und zeitgemäße Kommunikation diskutiert werden. Obwohl seit Jahren geklagt wird, dass Bezirksbeamte immer wieder zu anderen Großeinsätzen herangezogen werden und dann im Bürgerkontakt fehlen – Reul schwebt offenbar keine Reform zu Lasten der Dorfsheriffs vor: „Die Landesregierung steht hinter dem Konzept. Sie können in mir einen Fürsprecher sehen.“
Muss die Polizei neue Wege zum Bürger suchen?
Doch bei einem kleinen Rundgang durch Rheinhausen fällt Reul am Montag sofort auf, wie sich die Arbeit verändert hat: „Wenige Leute auf der Straße, oder?“, fragt der Minister die ihn begleitenden Beamten. Die Scheiben der ehemaligen Eckkneipe sind blind. Die Ladenfront der früheren Bäckerei wird gerade zugemauert. Es sind viele Armutszuwanderer aus Bulgarien und Rumänien hergezogen. Mit dem Niedergang der Einzelhandelsstruktur und dem Gaststätten-Sterben ist der Polizei der natürliche Austausch mit den Bürgern abhandengekommen. Muss man künftig über die Sozialen Netzwerke besser ansprechbar werden?
Ist es noch sinnvoll, vorwiegend zu Fuß im Ort unterwegs zu sein, wenn die Bezirksbeamten allein in Duisburg Hunderte Haftbefehle pro Jahr vollstrecken? Ist die Ausrüstung noch zeitgemäß, wenn der „Freund und Helfer“ in den Abendstunden eher mit renitenten Jugendgruppen auf dem Bürgersteig zu tun bekommt? All das kommt nun auf den Prüfstand. Bezirksbeamte seien „die Seismografen unserer Gesellschaft“, findet Reul.
In Duisburg zeigt der Seismograf einige Ausschläge. Ein langgedienter Bezirksbeamter, der für das Rotlicht-Milieu zuständig ist und sich mit herbem Ruhrgebietscharme „Bordell-Bulle“ nennt, berichtet von „Kundschaft“, die so arm sei und nichts habe, dass man schon mal beim Briefverkehr mit den Ämtern helfen müsse. 30 Prozent aller Haftbefehle würden für offene Rechnungen unter 100 Euro vollstreckt, berichtet ein anderer. „Das ist die Realität.“