Sven Schneider ist Chef-Ermittler im Bereich Kindes-Missbrauch beim LKA. Er spricht über Täter, Arbeitsstrukturen und das neue Problem Schulhof.
Düsseldorf. Kriminalrat Sven Schneider ist Leiter des Cybercrime-Kompetenzzentrums im Landeskriminalamt in Düsseldorf. Seine Mitarbeiter sichteten das sichergestellte Material aus den Kindesmissbrauchsfällen in Lügde und Bergisch-Gladbach. Er spricht über den Kampf gegen die Datenmengen und neue Arbeitsabläufe.
Was wissen Ermittler über pädophile Täter wie jene in Lügde und Bergisch Gladbach?
Unabhängig von diesen konkreten Fällen wissen wir aus Studien mit bereits verurteilten Sexualstraftätern, dass nur die Hälfte der Täter, die Missbrauch an Kindern begehen, tatsächlich pädophil sind. Die anderen 50 Prozent sind sogenannte Ersatzhandlungstäter bzw. nicht präferenzgestörte Täter, sie haben also keine sexuelle Präferenz für Kinder vor der Pubertät. Zum Beispiel sind es solche Täter, die eigentlich eine Frau vergewaltigen wollen würden, aber das Risiko scheuen. Kinder sind einfacher zu manipulieren. Es gibt auch Täter, die sich aus einer Perversion heraus am Leid der Kinder ergötzen, es kann der Wunsch nach Ausübung von Macht sein. Zur sexuellen Orientierung der Täter aus den Komplexen Lügde und Bergisch Gladbach kann ich keine Aussage treffen.
Was steckt hinter Taten wie diesen?
Pädophilie ist keine Krankheit, sondern eine sexuelle Orientierung, die sich meist bereits in der Pubertät ausprägt. Das heißt: Pädophile Menschen wissen höchstwahrscheinlich recht früh von ihrer Orientierung, wissen aber auch, dass sie diese in unserer Gesellschaft nicht ausleben dürfen. Was für delinquent gehalten wird, hängt vorwiegend von gesellschaftlichen Normvorstellungen, von kulturell bedingten Sozialisationsprozessen und von der Entwicklung strafrechtlicher Vorschriften ab. Pädophilie an sich ist nicht verboten oder unter Strafe gestellt. Pädophilie ist in diesem Sinne nicht heilbar, therapieren kann man jedoch die Selbstkontrolle und den Umgang mit der Orientierung. Es geht für Pädophile darum, zu lernen, den Drang zu unterdrücken.
Die Fallzahlen schnellen in den vergangenen Jahren in die Höhe. Warum?
Studien gehen von einem bis fünf Prozent Menschen mit pädosexueller Neigung aus, die Diagnose Pädophilie bekommen etwas weniger als ein Promille der Weltbevölkerung. Das ist also ein weltweites Problem, das nicht nur Industrieländer betrifft. Die Globalisierung schafft Möglichkeiten. In Südostasien z. B. werden Kinder gezwungen, sich vor laufender Webcam zu entkleiden, an sich selbst oder Sex mit anderen zu haben – und von der ganzen Welt aus wird gegen Bezahlung dabei zugesehen.
Wie haben sich die Zahlen in NRW entwickelt?
2019 hatten wir eine Steigerung der Fallzahlen um 67 Prozent. Nach Schätzungen des Bundesjustizministeriums ist das Dunkelfeld in dem Bereich aber acht Mal so hoch, wie die bekannten Fälle. Wir sehen also nur die Spitze des Eisberg. Ein neues Phänomen macht uns besondere Probleme.
Welches?
In einem Drittel der uns bekannten Fälle aus 2019, in denen Missbrauchsabbildungen versendet werden, geschieht dies durch Personen, die selber noch Kinder oder Jugendliche sind. Die Abbildungen werden werden per Messenger in Schulgruppen o. ä. hin und her geschickt. Die strafrechtliche Relevanz der Inhalte ist den Kindern und Jugendlichen, die sich dadurch strafbar machen, offenbar nicht bewusst. Das sind oft kleine Sequenzen, die vermeintlich lustig aufbereitet und mit ein bisschen Musik unterlegt sind. Aus Unbedachtheit oder Dummheit werden diese Videos weitergeleitet. Das bekämen wir aus unterschiedlichen Gründen gern gestoppt. Das sind viele Fälle, die viel Arbeit machen und die Fallzahlen erhöhen, aber viel schlimmer: die Opfer von sexuellem Missbrauch werden dadurch immer wieder traumatisiert und das eigentliche Problem wird verharmlost.
Wie groß sind die sichergestellen Datenmengen?
Im Schnitt fallen pro Verfahren drei Terrabyte an Daten an. Das sind unfassbare Mengen. Wir hatten kürzlich einen Fall, da hatte eine Person über zwei Millionen Bilder und 300.000 Videos auf seinen Speichermedien. Der überwiegende Teil der Täter scheint eine Art Jäger- und Sammler-Mentalität entwickelt zu haben. Das sind krasse Mengen, die man sich im Leben nicht anschauen kann.
Haben die Fälle Lügde und Bergisch-Gladbach den Ermittlungsbereich verändert?
Das haben sie mittelbar. Die Kursänderung im Phänomenbereich war schon vorher eingeleitet worden, weil wir 2018 gemerkt haben, dass die Datenmengen und Fallzahlen weiter explodieren und wir größere Rückstände in der Ermittlungsarbeit aufbauen. Wir haben uns die Prozesse genauer angesehen und Defizite festgestellt, für die wir einen neuen Workflow entwerfen. Innenminister Herbert Reul hat das Thema zu seinem Schwerpunkt gemacht und den Polizeibehörden aufgegeben, es auch zu ihrem zu machen.
Wie sieht der neue Workflow aus?
Bis dato ist es so, dass die komplette Ermittlungsarbeit in den 47 Kreispolizeibehörden in NRW gemacht wird. Verdachtspersonen werden ermittelt und Datenträger sichergestellt, wenn es zu einer Hausdurchsuchung kommt. Alle vorgefundenen Daten werden zunächst kopiert, dann aufbereitet und nach Videos, Bildern, Chat- und Browserverläufen sortiert. Dateien, die von der Software als bekannt identifiziert werden, werden in einen Ordner verschoben. Und am Ende müssen alle Dateien auf inkriminiertes Material untersucht werden. Diese Auswertung von Bildern und Videos wird in Zukunft bei uns im Dezernat gemacht. Wir zentralisieren diese Arbeit für NRW.
Wie weit sind Sie auf diesem Weg?
Wir arbeiten nach dem neuen Konzept schon seit Mitte 2018 mit einigen Behörden, aber noch längst nicht mit allen. Lügde und Bergisch-Gladbach haben uns dann einerseits sehr viele Ressourcen gekostet, uns aber andererseits auch viele Erkenntnisse gebracht. Dennoch hinken wir nun dem Zeitplan etwas hinterher. Plan jetzt ist, bis Ende 2020 alle Kreispolizeibehörden an das System angeschlossen zu haben. Wer soll die Mehrarbeit bei Ihnen machen?Wir haben etliche Stellen ausgeschrieben. 34 Mitarbeiter sind bereits neu eingestellt, aber das reicht auch noch nicht. Das sind Tarifbeschäftigte vom freien Arbeitsmarkt, keine Polizisten. Um ehrlich zu sein, hatte ich befürchtet, dass wir kaum Leute finden würden, weil ich dachte: Wer will sich den ganzen Tag diese schlimmen Bilder ansehen? Aber wir hatten 150 Bewerbungen, damit hatte ich nie gerechnet. Das war der Einfluss von Lügde, weil sie alle die Nachrichten aus Lügde gesehen haben, weil die meisten selber Kinder haben und sie helfen wollen. Lügde hat uns geholfen, tolle, fähige Leute zu finden.
Was sind das für Menschen?
Das sind Büro- oder Verwaltungsangestellte, Rechtswissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Kommunikationswissenschaftler. Wir haben wert darauf gelegt, dass diese Personen psychisch belastbar sind, dass sie nicht introvertiert sind, sondern über Probleme reden, wenn sie welche haben. Es waren überwiegend Frauen und überwiegend Akademiker, 20 bis 50 Jahre alt.
Wie vermeidet man, jemanden versehentlich zu helfen, seine sexuelle Orientierung zum Beruf zu machen
Darauf haben wir im Auswahlverfahren geachtet, weil wir die Gefahr auch gesehen haben. Die Tests wurden von einem Psychologen begleitet und wir haben schon im Einladungsschreiben sehr transparent gemacht, dass wir Fragen stellen werden, die in anderen Vorstellungsgesprächen absolut tabu sind. Aber in diesem speziellen Bereich hielten wir das für sehr wichtig. Alle haben die Tests abgelegt und bestanden.
Was passiert mit den Beamten, die bislang die Auswertung der Bilder in den Kreispolizeibehörden vorgenommen haben?
Die werden sich nicht langweilen, denn sie sind mit der Arbeit aus nachvollziehbaren Gründen ja kaum nachgekommen. Im April 2019 hatten wir 550 Durchsuchungsbeschlüsse in den Kreispolizeibehörden, die nicht vollstreckt werden konnten. Das ist zwischenzeitig geschehen. Außerdem können sich die Kolleginnen und Kollegen nun auf die Verbreitungswege und somit die Mittäter konzentrieren.
Was ist der Vorteil des neuen Systems?
Wir vermeiden eine Art Wildwuchs und können technische Standards besser einziehen. Zudem lassen sich aus den Daten oft noch laufende Missbrauchsfälle ermitteln. Diese Verdachtsfälle sind uns früher aus den Behörden genannt worden, jetzt haben wir da selber von Beginn an den Blick drauf. Ich habe eine Serie aus der Vergangenheit vor Augen, in der ein Mädchen von einem älteren Mann mit einer Maske sexuell missbraucht wird. Als alles beginnt, ist das Mädchen fünf, als die Serie aufgedeckt wird 15. Solche Serien gibt es – und die wollen und müssen wir früher finden.
Sich stundenlang kinderpornographisches Material anzuschauen, kann vermutlich sehr belastend sein. Ist es auch hilfreich, noch näher an diesen Personen dran zu sein?
Das ist ein gewollter Nebeneffekt. Wir haben hier Sportmöglichkeiten im Hause und die Mitarbeiter können zwischendurch spazieren gehen oder sich zusammensetzen, um über das Erlebte zu sprechen. Wir möchten ein Klima des Vertrauens schaffen. Wir sind hier ständig und täglich mit den Mitarbeitern im Gespräch. Wenn jemand eine Belastung oder eine Überlastung spürt, dann ist er auch aufgefordert, darüber zu reden und das nicht mitzuschleppen. Daneben gibt es ein Supervisionskonzept mit verpflichtenden Einzel- und Gruppensupervisionen.
Kann man diesen Beruf vom Privatleben trennen?
Belastungen werden immer sehr individuell wahrgenommen. Ich glaube schon, dass das etwas mit einem Menschen macht. Das kann Auswirkungen bis in die eigene Sexualität haben. Wenn Sie ein Video finden vom Missbrauch eines Säuglings und den Ton dazu hören müssen, um zum Beispiel zu wissen, in welcher Sprache gesprochen wird, dann ist das furchtbar. Aber es ist ja nicht nur das: Manche haben zwischen ihren Dateien auch Enthauptungvideos oder Szenen, in denen Menschen bei lebendigem Leib ausgeweidet werden. Die Ermittler wissen nie, welche Furchtbarkeiten auf sie zukommen.