Paris.. Der „Grande Nation“ droht ein tiefer Sturz. Das versagen der Parteien und die Skandale vieler Politiker stürzen das Land in die Krise. Das Erstarken der Rechtsextremen hat auch historische Gründe, weil sich das Land nie richtig mit seiner jüngeren Vergangenheit beschäftigt hat. Frankreich ist ein politisches Trümmerfeld.

Die sozialistische Regierung versagt bei der Lösung drängender Probleme. Die konservative Oppositionspartei UMP zerlegt sich mit einem üblen Finanzskandal selbst. Dafür feiert der europa- und fremdenfeindliche Front National (FN) von Marine Le Pen einen historischen Wahlsieg. Frankreich, die selbst ernannte „Grande Nation“, wird von einem politischen Erdbeben erschüttert. Droht Europas zweitgrößter Demokratie der Absturz?

Die Frage, ob das Mutterland der Menschenrechte, Europas zweitgrößte Volkswirtschaft sowie Deutschlands wichtigster Partner vor dem Zusammenbruch steht, sollte nicht mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt werden. Nichts und niemand scheint derzeit den Abmarsch Frankreichs in die politische wie wirtschaftliche Zweitklassigkeit aufhalten zu können.

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An eine Bananenrepublik erinnern die unappetitlichen Skandale, von denen die etablierten Parteien mit schöner Regelmäßigkeit erschüttert werden. Gleichzeitig höhlt der mangelnde Reformmut der politischen Eliten die Wettbewerbsfähigkeit des Landes aus und treibt die Arbeitslosenzahlen von einer Rekordhöhe auf die nächste.

Es gibt zum Verzweifeln viele nachvollziehbare Gründe, warum die französischen Wähler am vergangenen Sonntag entweder gar nicht an die Urnen treten wollten oder ihrem Zorn mit einem Votum für die FN-Populisten Luft machten.

Der unpopulärste Präsident

Der wankelmütige Präsident Hollande, der seine überzogenen Wahlversprechen in Serie brach und es mittlerweile zum unpopulärsten Staatsoberhaupt der V. Republik gebracht hat, trägt sicherlich die Hauptschuld. Aber das Unvermögen der vergangenen und aktuellen Regierungen, das Land aus einer seit sechs Jahren andauernden Krise zu führen, lastet mindestens ebenso schwer.

Es kommt hinzu, dass die Franzosen ihre Politiker durch die Bank für unfähig und korrupt halten. So ungerecht ein solches Pauschalurteil auch anmutet – es erhält ständig neue Nahrung. Durch die miese Situation des Landes einerseits; aber eben auch durch eine schier endlose Serie von Affären und Skandalen, die die beiden großen politischen Lager moralisch vollständig diskreditiert haben. Unvergessen etwa Hollandes Haushaltsminister Jérôme Cahuzac, der 2013 als Steuerflüchtling überführt wurde. Oder jene drei Ermittlungsverfahren, die die Justiz sogar gegen Ex-Präsident Nicolas Sarkozy wegen Korruptionsverdacht oder illegaler Wahlkampffinanzierung eingeleitet hat.

Um Sarkozys Präsidentschaftswahlkampf 2012 geht es auch in dem jüngsten Skandal, über den nun die komplette UMP-Spitze stolperte. Demnach soll die von engen Freunden des scheidenden Oppositionsführers Jean-François Copé geführte PR-Firma Bygmalion mit gefälschten Rechnungen Wahlkampfausgaben in einer Höhe von elf Millionen Euro kaschiert haben. Bereits seit März ermittelte die Justiz, vorgestern wurden jetzt die Geschäftsräume der UMP und Bygmalions durchsucht.

Vergangenheit nicht aufgearbeitet

Kaum verwunderlich, dass die Franzosen von diesem Sumpf die Nase gestrichen voll haben. Schon deswegen hat das runde Viertel der abgegebenen Stimmen, das am Sonntag auf den Front National entfiel, mit Europa nur am Rande zu tun. Eine große Mehrheit der Franzosen wünscht weder den von den Populisten propagierten Austritt aus der EU noch den aus dem Euro. Hingegen haben sie nahezu vollständig das Vertrauen in ihren Präsidenten, ihre Regierung und in ihre beiden Volksparteien verloren.

Doch vor allem die Gründe für den Höhenflug des rechtsextremen Front National sitzen tiefer. Das Land, das den heroischen Widerstand seiner Résistance während der Zeit unter der Nazi-Besatzung zu einem nationalen Mythos erhob, hat seine eigene rechtsextreme Vergangenheit nur unwillig und ungenügend aufgearbeitet. Die Kollaboration mit den Nazis blieb als dunkles Kapitel der eigenen Geschichte weitgehend im Hintergrund. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Zeit Frankreichs als Kolonialmacht, etwa in Algerien. Was das Bild von der Grande Nation trübte, blieb gern unter Verschluss.

Es ist auch diese Verklärung der eigenen Vergangenheit, die der fremdenfeindlichen Hetze und den platten Anti-Europa-Parolen einer Marine Le Pen nun den Weg bereitete. Der Front National beherrscht inzwischen weitgehend den politisch-kulturellen Diskurs in Frankreich. Die FAZ nennt dies „Camembert-Faschismus“.