Rom. 63 Tage nach der Parlamentswahl hat Italien endlich eine Regierung. Der neue Ministerpräsident Enrico Letta hat ein Kabinett aus Sozialdemokraten, Konservativen und parteilosen Technokraten gebildet, um das Land weiter aus der Krise zu führen. Alle Beteiligten sind erleichtert.

Ein heller, hoher, festlicher Barocksaal. Fröhliche, entspannte Gesichter, wie man sie in diesen Kreisen lange nicht mehr gesehen hat. Scherzhafte Bemerkungen. Die 21 Minister der neuen italienischen Regierung und Premier Enrico Letta legen im Palast des Staatspräsidenten ihren Amtseid ab. Doch kaum haben sie damit angefangen, herrscht draußen Großalarm: Schüsse vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten. Anschlag auf die Carabinieri. Italiens Nachrichtensender teilen den Bildschirm: links das Fest, rechts das Blut. Ein Terroranschlag mitten in Rom, zwischen Zehntausenden von Touristen? Boston in der Ewigen Stadt? Und die neuen Minister bekommen nicht einen Hauch davon mit.

Noch Stunden später, als sich bereits herausgestellt hat, dass der Attentäter ein einzelner war, ein 49jähriger kalabrischer Maurer, wohnhaft in Piemont, ohne politische Motive, mag die Aufregung nicht abklingen. Zwar spazieren die neuen Minister für Äußeres und für Europafragen, Emma Bonino und Enzo Moavero, zu Fuß und ohne Leibwächter vom Staatspräsidenten den Quirinalshügel hinab zum  Regierungssitz; sie wollen zeigen, dass ins frühlingshafte Rom – jedenfalls derzeit – keine bleiernen, terroristischen Zeiten zurückgekehrt sind.

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Die Frage aber ist für alle unabweisbar: Wenn Luigi P. nach dem Scheitern seiner Ehe und dem Verlust seines Jobs aus Verzweiflung die sechs Schüsse abgefeuert hat, hat dann nicht die Krise des Landes ihre Blutspur bis vors Büro des Regierungschefs gezogen? Nachdem sich bereits so viele Italiener, von den Medien ausführlichst registriert, aufgrund einer ausweglos erscheinenden Wirtschaftslage selbst das Leben genommen haben?

Koalition ohne Namen

Enrico Letta seinerseits, der erst 46jährige Ministerpräsident, er wollte mit der Zusammensetzung seiner Regierung und der sie tragenden Koalition, dem Land ein Zeichen für den Aufbruch geben. Erstmals seit neunzehn Jahren, seit Silvio Berlusconi "auf das Spielfeld der Politik herabgestiegen" ist (wie er selber zu sagen beliebt), finden sich sein Mitte-Rechts-Lager und die "Feinde" von Mitte-Links zu einem Regierungsbündnis bereit. Diese Kombination ist für Italien so neuartig, dass die Zeitungen nicht mal eine Bezeichnung dafür haben. Sie nehmen Anleihe beim Deutschen und nennen alles eine "grosse koalition".

Dann der Generationswechsel: Dem neuen Kabinett gehören neun Politiker – für Italien auffallend viele – zwischen 37 und 50 Jahren an, Neulinge auch, die erst vor zwei Monaten überhaupt ins Parlament gewählt worden sind; das Durchschnittsalter ist gegenüber der scheidenden Regierung Monti von 64 auf 53 Jahre gesunken. Dem Drängeln der Altparteien, "die Erfahrung" und "die Schwergewichte" nicht aus seinem Kabinett auszuschließen, hat sich Enrico Letta in recht nervigen Marathon-Verhandlungen erfolgreich widersetzt. So hatten seine Sozialdemokraten beispielsweise Massimo D'Alema als Außenminister ins Gespräch gebracht; darauf schlug Montis "Bürgerwahl" als dritte, kleinste Koalitionspartei ihren eigenen Chef vor, und Silvio Berlusconi sagte: "Wenn Monti oder D'Alema Außenminister wird, dann darf ich wohl auch Wirtschaftsminister werden."

Jetzt ist aus den Reihen der Altparteien kein früherer Minister im Kabinett übriggeblieben – mit einer gut begründete Ausnahmen: Das Innenressort führt Berlusconis Vertrauter, Angelino Alfano, der zwischen 2008 und 2011 bereits Justizminister war. Nominell ist der Sizilianer Alfano auch "Sekretär", also Vorsitzender von Berlusconis "Volk der Freiheit". In dem erst 42jährigen kann, wer will, auch den im Konflikt der Generationen aufstrebenden, künftigen Führer einer erst noch zu formierenden, neuen Rechten sehen – faktisch gibt Berlusconi aber die Führung nicht aus der Hand. Alfano wird unter dem Sozialdemokraten Letta und unter Berlusconis Überwachung auch Vize-Premier.

Heikles Ressort von Parteiloser besetzt

Letta hat sich nicht nur bemüht, alle Strömungen seiner Koalitionsparteien zu berücksichtigen – deswegen ist die Ministerliste auch so lang geworden –, er  wollte auch ein starkes Zeichen an die Adresse Europas senden: Finanz- und Wirtschaftsminister wird nicht einer von jenen Parteipolitikern, die gegen Mario Montis "mörderische Strenge" Wahlkampf getrieben haben und nun die Staatsausgaben wieder erhöhen wollen, sondern wieder ein "Technokrat": der unabhängige Generaldirektor der Nationalbank Fabrizio Saccomanni, ein enger Vertrauter des EZB-Chefs Mario Draghi und von Mario Monti.

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Von Lettas 21 Ministern – um die Posten der Stellvertreter, der Staatssekretäre, der "Aufpasser", rangeln die Parteien und die enttäuschten Altpolitiker erst noch – sind ein Drittel Frauen. Auch das ab es in der politischen Geschichte Italiens noch nicht. Und sie wurden nicht nur mit dem Landwirtschafts- oder dem Gesundheitsressort abgefungen. Eine der sensibelsten Spitzenpositionen nimmt die parteifreie Anna Maria Cancellieri (69) ein, eine frühere Spitzenbeamtin, die erst als Innenministerin unter Mario Monti in die Politik eingetreten ist und nun das Justizressort führt. Dieses galt – wegen Berlusconis ausdrücklicher, unablässig wiederholter Forderung, dass seine privaten Rechte "garantiert" bleiben sollten und dass kein ihm "feindlich gesinnter" Politiker dort installiert werden dürfe, als das heikelste Ressort der Koalitionsregierung.

 Als zweite Spitzenfrau wird, überraschend, Emma Bonino (65) Chefin des Außenministeriums. Die frühere EU-Kommissarin für Menschenrechte und Verbraucherschutz (1995-99) gehört keiner der Koalitionskräfte, sondern der kleinen Radikalen Partei an und hat sich als Kämpferin für Frauen- und Minderheitenrechte einen Namen gemacht.

Gebürtige Deutsche ist Gleichstellungsministerin

Mindestens genauso überrascht war die aus der Gegend von Kleve stammende, gebürtige Deutsche Josefa Idem (48), als Letta sie zur Sport- und Gleichstellungsministerin berief. Als Sportlerin, als Kanutin, hat sie ihre Goldmedaillen und ihre Weltmeisterschaften für Italien gewonnen; seit zwanzig Jahren lebt sie in Ravenna und ist als regionale Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten vor zwei Monaten ins Abgeordnetenhaus gewählt worden. Integrationsministerin wird die Augenärztin und gebürtige Kongolesin Cécile Kyenge (48), die erste – vor zwei Monaten für die Sozialdemokraten ins Parlament gewählte – schwarze Abgeordnete und Ministerin Italiens.

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Insgesamt kommen die Sozialdemokraten damit auf neun Kabinettsmitglieder, das "Volk der Freiheit" auf fünf, Montis "Bürgerwahl" auf drei; die anderen sind parteiunabhängige "Technokraten". Und Letta, da sind sich alle italienischen Kommentatoren einig, hat seine Regierung auf Dauer angelegt. Was immer in den kommenden Monaten passiert.