Berlin. In Deutschland sterben nach Schätzung von Experten fünfmal so viele Menschen durch Behandlungsfehler im Krankenhaus wie durch Unfälle im Straßenverkehr. Laut dem neuen Krankenhaus-Report der AOK kommt es derzeit zu rund 19000 Todesfällen pro Jahr: Jeder 100. Klinik-Patient müsse mit Fehlbehandlungen rechnen.
„Seien Sie froh, dass sie bei uns gelandet sind.“ Den Satz wird die junge Mutter nie vergessen. Mit dem Rettungswagen kam sie in die Klinik, etliche Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Ihre Tochter kam als Frühchen zur Welt - und überlebte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass zu früh geborene Kinder gerettet werden, steigt mit der Erfahrung des Klinikpersonals. Je mehr Fallzahlen, je mehr Routine, so argumentiert jetzt der aktuelle Krankenhaus-Report der AOK, desto größer ist die Überlebenschance. Die falsche Klinik, und das Kind wäre vielleicht nicht mehr am Leben.
Der Kassen-Report übt heftige Kritik an den 2200 deutschen Krankenhäusern: Jedes Jahr würden fünfmal so viele Menschen durch Behandlungsfehler sterben wie durch Unfälle im Straßenverkehr. Jeder 100. Patient müsse bei einem Klinikaufenthalt mit Fehlbehandlungen rechnen.
„Unerwünschte Ereignisse“ können tödlich enden
Laut AOK-Report finden in Deutschland pro Jahr rund 19 Millionen Krankenhausbehandlungen statt – darunter etliche Fälle mit komplizierten Eingriffen, etwa bei betagten Patienten mit komplexen Erkrankungen. Bei fünf bis zehn Prozent aller Krankenhauspatienten komme es zu „unerwünschten Ereignissen“, erklärt Max Geraedts, Leiter des Instituts für Gesundheitssystemforschung an der Uni Witten/Herdecke und Mitautor des Reports: Dazu gehören allergische Reaktionen auf Medikamente, aber auch entzündete Operationswunden oder schlimmstenfalls der Tod als Folge eines Behandlungsfehlers.
Besonders riskant sind demnach Eingriffe in Krankenhäusern, die zu wenig Spezialwissen haben, weil die Fallzahlen zu gering sind – oft kleinere Häuser, die dennoch das Angebot einer großen Klinik bereit halten wollen: „Für eine hochwertige medizinische Versorgung ist jedoch Spezialisierung das Gebot der Stunde“, heißt es bei der AOK. Ob bei der Behandlung von Frühchen oder bei Hüftgelenk-Operationen – wie gut das Ergebnis ist, hänge eng mit dem jeweiligen Krankenhausprofil zusammen.
Wenn Ärzte nicht nach Allergien fragen
Die Hälfte der Fehler sei vermeidbar. Krankenhausinfektionen, an denen Experten zu Folge jedes Jahr rund vier Prozent der Patienten erkranken, ließen sich durch bessere Desinfektionsmaßnahmen vermeiden. Allergische Reaktionen auf Medikamente seien manchmal schon durch mehr Aufmerksamkeit beim Aufnahmegespräch zu verhindern. Immerhin komme es vor, dass Ärzte ihre Patienten nicht nach Allergien befragen würden. Vernachlässigt werde auch eine professionelle „Fehlerkultur“, kritisiert der Krankenhaus-Report: Kliniken müssten Fehlerberichtssysteme im eigenen Haus, aber auch untereinander besser nutzen.
35 Prozent Kostensteigerung binnen zehn Jahren
Die Kassen haben die Kosten im Blick: Die Ausgaben der Gesetzlichen Versicherer für Krankenhausbehandlungen sind von 2002 bis 2012 um 35 Prozent gestiegen – auf 62 Milliarden Euro. Behandlungsfehler oder Komplikationen lassen bei einem Routineeingriff schnell die Summen explodieren.
Das Berliner IGES-Institut hat ausgerechnet, dass eine Infektion mit multiresistenten Erregern (MRE) die stationären Behandlungskosten um bis zu 10.000 Euro in die Höhe treiben kann. Nach dem Willen der AOK sollten die Länder bei Investitionen in die Krankenhäuser stärker auf Qualität achten – und auf den tatsächlichen Bedarf in der jeweiligen Region.
„Fehler passieren, auch in der Medizin. Wir lernen daraus.“
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) dagegen warnt vor Panikmache: Die Sicherheitsstandard seien hoch wie nie. Auch die Bundesärztekammer erinnert: Im Vergleich zur Gesamtzahl der Behandlungsfälle liege die Zahl der Behandlungsfehler im Promillebereich. Dennoch: Jeder Fehler sei einer zu viel.
Auch Ärzte- Präsident Frank-Ulrich Montgomery wies die Kritik zurück: „Fehler passieren, auch in der Medizin. Wir kehren diese Fehler aber nicht unter den Tisch, sondern wir lernen aus ihnen.“ Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) warnte gestern davor, die Patienten zu verunsichern: Die Sicherheitsstandards seien so hoch wie nie zuvor.
Eine wichtige Ursache für die Behandlungsfehler sieht der AOK-Report aber auch in einer falschen Strategie der Kliniken: Viele Krankenhäuser würden versuchen „sich zu kleinen Universitätskliniken zu entwickeln, die alles anbieten“, so Uwe Deh vom AOK-Bundesverband. Oft zu Lasten der Qualität: So zeigt etwa der Report, dass Hüftgelenk-Operationen oft wiederholt werden mussten, wenn sie in Krankenhäusern durchgeführt worden waren, die solche Eingriffe nur selten erledigen.
Die „Weiße Liste“ und die beste Hüft-OP
Der AOK-Report mahnt die Kliniken, Behandlungsfehler systematisch zu erfassen und eine professionelle „Fehlerkultur“ zu entwickeln. Nach Auskunft des Bundesgesundheitsministeriums nutzt allerdings beispielsweise erst die Hälfte aller deutschen Krankenhäuser das Fehlermeldeverfahren CIRS („Critical Incident Reporting System“) zur Verbesserung der Patientensicherheit.
Der neue Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), will sich in den kommenden vier Jahren dafür einsetzen, die Wahlmöglichkeiten für Patienten besser und transparenter zu machen. „Wo finde ich die beste Klinik für meine Hüft-OP?“ Die Informationssysteme müssten verstärkt werden und vor allem verständlicher werden.
Zum Beispiel die „Weiße Liste“ – ein Patientenportal, das die Bertelsmann Stiftung zusammen mit Patienten- und Verbraucherorganisationen betreibt.
Wer klagen will, braucht Zeit
Falsche Operationsmethode, fehlerhafte Prothesen – all das fällt in den Bereich Behandlungsfehler. Der Patient kann auf Schadensersatz klagen. „Es gibt zwar das neue Patientenrechtegesetz von 2012, doch so viel hat sich nicht geändert“, sagt der Medizinrechteanwalt Bernd Podlech-Trappmann aus Witten.
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In dem neuen Gesetz sollte die Beweislast umgekehrt werden: Der Arzt, nicht der Patient, muss beweisen, dass er keinen Fehler gemacht hat. „Doch das gilt nur bei groben Behandlungsfehlern. Bei einfachen bleibt die Beweislast beim Patienten.“
Was „einfach“ und was „grob“ ist, ließe sich nicht so leicht sagen. „Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn durch den ärztlichen Eingriff bei Geburten das Kind so geschädigt wird, dass es bleibende Schäden aufweist.“ Hier stehen die Chancen gut, seine Rechte geltend zu machen.
Peinliche „Kleinigkeiten“ sind schnell abgewickelt
Wer klagen will, braucht Zeit. Ein Gerichtsverfahren könne sich ein, zwei Jahre hinziehen. Bei außergerichtlicher Einigung gehe es schneller, doch auch die kann sechs bis zehn Monate dauern.
„Wenn es um Kleinigkeiten geht, kann man auch schon mal innerhalb ein, zwei Wochen zum Ergebnis kommen“, so Anwalt Podlech-Trappmann. „Ich erinnere mich an einen Fall, da wurde eine Klemme im Bauch des Patienten vergessen.“ Sie wurde erst viel später, in einer anderen Klinik, entdeckt. „Da hatte die verursachende Klinik natürlich großes Interesse, sofort zu einer Einigung zu kommen“, um den Imageschaden klein zu halten. Gezahlt wurden etwa 15.000 Euro.
Hilfreich sei eine Rechtsschutzversicherung, so der Anwalt. Man könne zudem Prozesskostenhilfe beantragen oder Teilklagen einreichen.