Essen. In NRW wird 2022 die erste Pflegekammer gewählt. Fachkräfte ärgert die Zwangsmitgliedschaft. Verdi und SPD fordern eine Vollbefragung.
Zu ihrer Berufsbezeichnung macht Anja Kuczera eine klare Ansage: „Krankenschwester, darauf bestehe ich“, sagt die 47-Jährige, „ich kümmere mich ja um Menschen. Der Begriff Pflegekraft ist mir da zu kalt.“ 1994 machte die Gladbeckern ihr Examen in der Krankenpflege. Sie kann eine Menge Dinge aufzählen, die aus ihrer Sicht in ihrem Berufszweig falsch laufen – zu wenig Personal, zu niedrige Gehälter, zu wenig Zeit für die Erkrankten. Eins aber brauche es nicht, um diese Probleme zu lösen, sagt sie: eine Pflegekammer, wie sie derzeit in NRW für rund 220.000 Pflegefachkräfte errichtet wird.
„Eine Pflegekammer wird nicht dafür sorgen, dass es der Pflege besser geht“, ist Kuczera überzeugt. „Pflege braucht mehr Gehalt und Entlastung. Das kann die Kammer nicht beschaffen.“ Die gebürtige Schleswig-Holsteinerin gehört zu einer Gruppe, die sich als lokale und regionale Pflegebündnisse gegen die 2020 vom NRW-Landtag auf den Weg gebrachte Pflegekammer stellt. Wie viele Aktive hinter den Bündnissen stehen, ist nicht bekannt. „Wir Pflegekräfte wollen die Kammer in der Mehrheit nicht“, sagt Kuczera.
In einer Umfrage haben knapp 60 Prozent eine Pflegekammer befürwortet
Seit Jahren diskutiert NRW über eine solche Institution. Befürworter wie der NRW-Pflegerat sehen in ihr eine Chance, den gewerkschaftlich kaum organisierten Fachkräften in der Kranken- und Altenpflege mehr Mitsprache zu ermöglichen. Der Kammer sollen staatliche Aufgaben übertragen werden. Sie soll eine Berufsordnung und Qualitätsrichtlinien entwickeln, wäre für Fort- und Weiterbildungen zuständig und soll perspektivisch Ausbildungsaufgaben erhalten.
2018 haben in einer repräsentativen Umfrage unter rund 1500 Pflegekräften 59 Prozent der Befragten die Errichtung einer Pflegekammer befürwortet. 2022 sollen nun die ersten Wahlen stattfinden. Die Zeiten, in denen die Pflege nur vom Katzentisch aus über ihre eigenen Belange mitberaten durfte, müssten der Vergangenheit angehören, sagte dazu NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) im Herbst 2020.
Kritik der Beschäftigten an der Zwangsmitgliedschaft
Beschäftigte halten es für fraglich, ob sich ihre Arbeit durch eine Kammer verbessert: In Schreiben an die Redaktion kritisieren Pflegekräfte, dass die Kammer an entscheidenden Stellen gar keine Mitsprache habe. Sie könne weder Interessen der Pflegekräfte am Arbeitsplatz vertreten noch bessere Arbeitsbedingungen oder Löhne verhandeln oder Altersvorsorge bieten, schreibt eine Mendener Pflegekraft.
Groß ist der Ärger über die Zwangsmitgliedschaft: Alle dreijährig ausgebildeten Pflegefachkräfte in NRW müssen sich für die Kammer registrieren und einen noch nicht genannten Beitrag zahlen. Betroffene schreiben von einem „Zwangsgeld“. Ein Mitarbeitervertreter aus Oberhausen warnt, dass solch eine Zwangsverkammerung eine Abwanderung aus den Pflegeberufen beschleunigen könne.
Gewerkschaft und SPD: NRW muss aus Fehlern anderer
Kritik gibt es auch von Verdi und der Opposition. NRW-Gewerkschaftssekretärin Maria Tschaut hält die Kammer für wenig sinnvoll. Viele der künftigen Kammeraufgaben könne NRW schon jetzt selbst in die Wege leiten und Pflege daran über bereits bestehende Organisationen auch beteiligen. Bessere Arbeitsbedingungen zu erstreiten, das sei Aufgabe der Gewerkschaften und Betriebsräte vor Ort.
Die Umfrage von 2018 hält Tschaut zudem für wenig aussagekräftig. Sie bezweifelt, dass die Auswirkung einer Kammergründung allen Befragten klar gewesen sei. Verdi fordert eine Befragung aller Pflegekräfte: „Wir brauchen eine Vollbefragung, damit Pflegekräfte selbst sagen können, was sie wollen.“
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Dem schließt sich die SPD-Fraktion im NRW-Landtag an. Pflegeexperte und SPD-Abgeordneter Josef Neumann fordert das Land sogar auf, die Errichtung der Kammer zu unterbrechen: „Die Landesregierung ist klug beraten, ihr Vorhaben zurückzuziehen und mit den Pflegekräften den Dialog aufzunehmen“, so Neumann.
Er verweist auf die Entwicklung in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, wo die erst gegründeten oder geplanten Pflegekammern nach Befragungen der Beschäftigten wieder gestoppt wurden. In Rheinland-Pfalz besteht die Kammer weiterhin, das Interesse der Pflegenden könnte aber größer sein: An den jüngsten Wahlen zur Kammervertretung haben gerade 16 Prozent der Mitglieder beteiligt.
>>> NRW stellt Anschubfinanzierung
In NRW will aus den Erfahrungen in Norddeutschland lernen, wo sich der Protest gegen die Kammer : Anders als Schleswig-Holstein und Niedersachsen stellt NRW fünf Millionen Euro als Anschubfinanzierung zur Verfügung. So könnten Mitgliedsbeiträge anfangs gering ausfallen. Widersprüche gegen die Mitgliedschaft gibt es dennoch bereits, wie der „Errichtungsausschuss“ der Kammer berichtet. Er schreibt bis Mitte September alle rund 220.000 Pflegekräfte im Land an und fordert sie zur Registrierung auf. 28 Angeschriebene hätten bislang widersprochen. Laut Ausschuss ergibt sich die Mitgliedschaft aus dem Heilberufegesetz NRW. Man habe keinen Ermessensspielraum.
Eine Sprecherin betonte, der Errichtungsausschuss keinen Ermessensspielraum im Rahmen der Registrierung und Feststellung der Pflichtmitgliedschaft, da sich die Mitgliedschaft aus dem Heilberufegesetz NRW ergebe. Die geäußerte Kritik ist dem Ausschuss nicht neu: „Wir sehen es als positiv an, dass unsere Mitglieder sich mit der Kammer auseinandersetzen“, heißt es.