Düsseldorf. Die Anzeichen verdichten sich, dass das Landeskabinett die Maskenpflicht im Freien kippt. Ausgenommen davon sind wohl stark frequentierte Orte.

In NRW werden immer mehr Stimmen laut, die ein schnelles Ende der Maskenpflicht im Freien fordern. „Wir beobachten täglich die Situation und werden darüber auch kurzfristig entscheiden. Ich glaube, es wäre klug, zumindest im Freien auf eine Maskenpflicht zu verzichten“, sagte der stellvertretende NRW-Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) dieser Redaktion.

Die Aufhebung der Maskenpflicht war am Dienstag wohl auch Thema der Kabinettsitzung auf dem Gelände der Düsseldorfer Galopprennbahn. Zuvor hatten sich entsprechende Hinweise verdichtet. Lediglich an gut frequentierten Orten soll die Maske auch im Freien noch getragen werden, hieß es aus Kabinettskreisen. Zu welchem Ergebnis die Landesregierung gekommen ist, war am Abend noch unkar: Gut möglich ist auch, dass NRW-Ministerpräsident Laschet die Maskenpflicht in seiner Rede im Landtag am Mittwochmorgen thematisiert.

Laschet will den Landtag am Mittwoch über die aktuelle Corona-Lage in Nordrhein-Westfalen informieren. Die Rede mit dem Titel „Unser Land erfolgreich aus der Pandemie führen und neue Perspektiven eröffnen“ steht unter dem Eindruck sinkender Corona-Neuinfektionszahlen bundesweit und auch in NRW.

Auch Gesundheitsminister Laumann kann sich Lockerung vorstellen

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) meinte: „Bei den derzeitig sinkenden Infektionszahlen kann ich es mir durchaus vorstellen, die Maskenpflicht in bestimmten Außenbereichen zur Debatte zu stellen“. Bei größeren Menschenansammlungen, etwa in Warteschlangen, solle aber vorerst weiter an der Maskenpflicht festgehalten werden.

Auch wenn in NRW bereits über 50 Prozent eine Erstimpfung erhalten haben, seien wir noch ein gutes Stück von der Herdenimmunität entfernt, so Laumann. "Solange noch nicht ausreichend Menschen vollständig geimpft sind, warne ich davor, vorschnell Grundsätze wie die AHA-Regeln in Frage zu stellen." Die Pandemie sei  nicht vorbei und die Ausbreitung der Delta-Variante in Großbritannien zeige, "wie zerbrechlich auch eine scheinbar sichere Infektionssituation sein kann.“

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte am Wochenende die Diskussion über die Maskenpflicht befeuert. Sie rief die Bundesländer auf zu klären, ob und wo eine Maskenpflicht noch verhältnismäßig sei. Besonders für Schüler, die Masken stundenlang im Unterricht tragen müssen, sei dies eine Belastung, hatte sie der „Bild am Sonntag“ gesagt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) forderte  ebenfalls ein Umdenken.

SPD-Landeschef Kutschaty: "Nicht zu viel Risiko auf einmal"

Auch NRW-SPD-Chef Thomas Kutschaty reiht sich ein in die wachsende Gruppe derer ein, die sich zeitnah Lockerungen bei der Maskenpflicht vorstellen können. „Der Sommer wird gut: Die Inzidenzahlen sinken weiter und die Impfquote steigt. Aber bei aller Euphorie dürfen wir bitte diejenigen nicht vergessen, die noch keine Chance auf eine Erstimpfung hatten. Und das sind immer noch fast die Hälfte der Bevölkerung“, erklärte er.

In Innenräumen, da wo viele Menschen zusammen seien, wie zum Beispiel in Schulen oder Bussen und Bahnen, könne er sich ein Ende der Maskenpflicht daher noch nicht vorstellen. „Da sollten wir nicht zu viel Risiko auf einmal gehen. An der frischen Luft, wo die Ansteckungsgefahr ohnehin gering ist, brauchen wir eine Maskenpflicht in der aktuellen Lage aber tatsächlich nicht mehr,“ so der SPD-Politiker.

Verena Schäffer (Grüne) in Sorge wegen der Delta-Variante des Virus

Ähnlich, wenn auch noch etwas vorsichtiger als Kutschaty, äußerte sich die Grünen-Landtagsfraktionschefin Verena Schäffer auf Nachfrage dieser Redaktion: „Die sinkenden Inzidenzzahlen und die voranschreitenden Impfungen machen es möglich, die Maskenpflicht draußen überall dort aufzuheben, wo Abstände gewahrt werden können“, so Schäffer. In Innenräumen, wo die Ansteckungsgefahr nachweislich deutlich höher sei, müssten wir allerdings weiter vorsichtig sein. Das mahne auch der Blick nach Großbritannien, wo sich die Delta-Variante trotz hoher Impfquote derzeit ausbreite.

„Jetzt vorschnell überall die Maskenpflicht aufzuheben, hat etwas von der Logik: Das Haus brennt nur noch ein bisschen, da können wir jetzt aufhören zu löschen. An den Arbeitsplätzen und in den Schulen kann in vollen Klassenräumen - also überall dort, wo Abstände nicht eingehalten werden können - zum jetzigen Zeitpunkt die Maskenpflicht entsprechend noch nicht aufgehoben werden. In Innenräumen ist die Ansteckungsgefahr groß, noch immer ist ein wesentlicher Teil der Lehrkräfte noch nicht vollständig geimpft, und Kinder und Jugendliche haben zum überwiegenden Teil noch gar kein Impfangebot erhalten“, warnte Schäffer.

Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Jochen Ott, riet dazu, die Hygieneregeln an den Schulen bis zu den Sommerferien noch so zu belassen, wie sie sind. „Wenn aber die Bundesregierung die Maskenpflicht im Freien aufheben sollte, dann könnte man auch auf den Schulhöfen in den Pausen auf die Masken verzichten“, sagte er.

AfD-Fraktionsvize Martin Vincentz sagte: "Aus medizinischer Sicht ist spätestens bei einer Inzidenz von unter 35 kein Nutzen vorhanden." Eine gesetzliche Grundlage für die Fortführung der Maskenpflicht gebe es angesichts der aktuellen Zahlen nicht.

Virologe Dittmer: Außen ohne Maske, innen mit 

Renommierte Wissenschaftler aus NRW raten in der Debatte um ein Ende der Maskenpflicht dazu, nicht vorschnell auf einen Mund-Nasen-Schutz zu verzichten. Vor allem die Ausbreitung neuer Virus-Mutationen bereitet den Experten Sorge. „An bestimmten Orten sollten Masken getragen werden, bis wir sowas wie eine Herdenimmunität erreicht haben“, sagte der Essener Virologe Prof. Ulf Dittmer dieser Redaktion.

Es sei bekannt, dass sich die Corona-Varianten „sehr effizient über Aerosole verbreiten können“, so der Leiter des Instituts für Virologie am Uni-Klinikum Essen. Diese Gefahr könne durch den Mund-Nasen-Schutz deutlich verringert werden, solange viele Menschen noch nicht den vollständigen Impfschutz besitzen. „Einmal Geimpfte können sich nämlich durchaus mit der Delta-Variante infizieren, wie Daten aus England zeigen“, mahnt Dittmer. Eine Abschaffung der Maskenpflicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei daher „vorschnell und wissenschaftlich nicht begründet“.

Da Aerosolübertragungen im Freien allerdings kaum eine Rolle spielten und „extrem selten“ vorkämen, könne man die Maskenpflicht im Außenbereich ohne Gefahr beenden. „In geschlossenen Räumen gilt dies aber eben genau nicht“, betont Dittmer. Daher sollte das Tragen der Masken in Schulen und im ÖPNV unbedingt weiter Vorschrift bleiben. Dittmer: „In England breitet sich die Delta-Variante jetzt häufiger in Schulen aus. Dieses Risiko sollten wir nicht eingehen, zumal Schüler kaum geimpft sind.“ In geschlossenen Räumen dürfe daher vorerst generell auf Masken nicht verzichtet werden.

Immunologe Watzl: "Mit Public Viewing bei der EM habe ich kein Problem"

Auch der Dortmunder Immunologe Prof. Carsten Watzl warnt vor der Infektionsgefahr durch die aus Indien bekannte Delta-Variante des Virus. „Wir sehen, dass sich diese Variante in Großbritannien schnell ausbreitet. Sie wird sich sicherlich auch in Deutschland durchsetzen.“ Um eine vierte Welle im Herbst zu vermeiden, sollten Lockerungen daher mit Vorsicht und Augenmaß erfolgen, sagte der Leiter des Forschungsbereichs Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung der TU Dortmund. „Wir müssen es schaffen, im Sommer die Verbreitung der Delta-Variante auf niedrigem Niveau zu halten“, sagte Watzl.

„Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Es wird im Herbst wieder einen Anstieg der Infektionszahlen geben.“ Niemand dürfe wegen der aktuell niedrigen Infektionszahlen glauben, er könne nun auf eine Impfung verzichten. Nötig sei vielmehr gerade jetzt ein rascher Fortschritt bei den Impfungen. „Nur dann werden wir im Winter ohne einen neuen Lockdown auskommen“, so der Immunologe. Deshalb plädiert auch er dafür, in geschlossenen Räumen sowie in Schulen, Bussen und Bahnen weiterhin Masken zu tragen. Unter freiem Himmel könne man hingegen derzeit auf den Mund-Nasen-Schutz verzichten. Watzl: „Mit Public Viewing bei der Fußball-EM habe ich kein Problem.“