Essen. Auch Zwölfjährige sollen ab dem 7. Juni in NRW ein Impfangebot erhalten. Schüler reagieren zurückhaltend, Eltern fordern Aufklärung.
Kinder- und Jugendärzte dämpfen die Erwartungen ans schnelle Impfen für alle über Zwölfjährigen in NRW. Das Interesse wachse seit Wochen in den Kinder- und Jugendarztpraxen, sagt Michael Achenbach vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe. „Die Anfragen werden deutlich zunehmen. Wir werden dem aber nicht gerecht werden können, wenn zugleich die Impfstofflieferungen gedrosselt werden.“
Bund und Länder hatten sich am Donnerstag auf ein generelles Impfangebot für über Zwölfjährige ab dem 7. Juni geeinigt. Damit griffen sie einer Entscheidung der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zur Zulassung des Impfstoffes von Biontech/Pfizer für Jüngere vor, die erst am Freitag erfolgte. Auch steht die Empfehlung der Ständigen Impfkommission noch aus. Zusätzliche Impfstoff-Lieferungen an die Länder soll es zur Versorgung der jüngeren Altersgruppe zudem nicht geben. Biontech hat am Freitag vielmehr einräumen müssen, dass sich Impfstofflieferungen Anfang Juni verzögern. Bislang war das Vakzin ab einem Alter von 16 Jahren zugelassen.
Jugendarzt: Jugendliche nicht der Lückenbüßen für die Herdenimmunität
Achenbach kritisiert den Vorstoß der Politik als voreilig. „Hier wird ein Impfangebot in Aussicht gestellt, ohne dass die notwendige Impfstofflieferungen vorhanden sind. Damit geraten wir immer mehr in einen Verteilungskampf.“ Er appelliert an die Politik, die Entscheidung der Ständigen Impfkommission abzuwarten. Es sei damit zu rechnen, dass sie eine Impfung für bestimmte Gruppen Jugendlicher empfehlen werde, etwa Jugendliche mit Trisomie 21.
Insgesamt sei die Datenlage zu Impfungen von über Zwölfjährigen dünn. Achenbach warnt daher davor, das Impfen Jugendlicher nun zur Herstellung einer Herdenimmunität heranzuziehen: „Sie dürfen nicht der Lückenbüßer sein, weil sich nicht genug Erwachsene impfen lassen. "
Junge Patienten können sich gegen Elternwillen impfen lassen
Zu beobachten sei bereits ein „versteckter Impfzwang“. Jugendliche sprechen Impfungen direkt in den Praxen an, nicht immer aus medizinischen Gründen, sagt der Facharzt. „Der Druck durch die Corona-Einschränkungen auf Jugendliche war und ist enorm. Sie wollen wieder leben können. Viele glauben, eine Impfung ist der einzige Weg dazu“, so Achenbach. „Das ist fatal.“ Teilhabe müsse Kindern und Jugendlichen unabhängig vom Impfen ermöglicht werden.
Achenbach erwartet auch familiäre Konflikte: Jugendliche können selbst entscheiden, ob sie sich impfen lassen oder nicht, auch gegen den Willen der Eltern. Entscheidend sei dabei, ob sie „einsichtsfähig“ sind, also Art und Tragweite einer medizinischen Behandlung abschätzen können.
Schüler kritisieren Ankündigungspolitik
Kritik gibt es auch von den Betroffenen selbst, den Schülerinnen und Schülern. Für das „große Aufatmen“ sorge die Aussicht auf ein generelles Impfangebot auch für Jüngere nicht, sagt Landesschülervertreter Timon Nikolaou. „Nur weil es ein Impfangebot geben wird, heißt das nicht, dass ausreichend Impfstoff da sein wird. Politik sollte keine Versprechen machen, die sie nicht halten kann“, sagt der 20-Jährige. Nötig sei, dass auch unter jungen Menschen weiterhin vorrangig jene geimpft werden, die Vorerkrankungen und Risikofaktoren für einen schweren Covid-19-Verlauf haben.
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Zu befürchten sei zudem, dass Schüler und Schülerinnen sich nicht immer aus freien Stücken immunisieren lassen: „Da wird es auch Druck in den Klassen geben. Das haben wir in der Frage des Masketragens am Platz erlebt.“
Eltern fordern Informationskampagne und Impfbusse: „Nicht allein lassen“
Auch Elternvertreter warnen vor einer indirekten Impfpflicht: „Gruppendruck muss unter allen Umständen verhindert werden“, sagt Anke Staar von der Landeselternkonferenz NRW. Der Impfstatus dürfe nicht mit bestimmten Privilegien an den Schulen einhergehen. Schon jetzt gebe es Schulen, in denen vollständig geimpfte oder genesene ältere Schüler von der Testpflicht befreit würden.
Staar sieht bei Eltern einen hohen Informationsbedarf. Nötig sei daher eine Aufklärungskampagne. „Es darf jetzt nicht bei diesem Angebot bleiben getreu dem Motto. Eltern, macht ihr mal. Es gibt bei vielen noch offene Fragen. Die Elternschaft ist in der Impf-Frage gespalten“ Eine Kampagne müsse zum Ziel haben, auch schwieriger zu erreichende Familien anzusprechen.
Oliver Ziehms, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW hofft, dass mit dem Impfangebot wieder mehr Normalität an den Schulen möglich ist. Wo sich Jugendliche impfen lassen, ob beim Kinderarzt, im Impfzentrum oder in der Schule, sollte ihnen freistehen. „Um möglichst viele Menschen zu erreichen, sollte es aus unserer Sicht Impfbusse geben, die Schulen zum Beispiel mit hoher Inzidenz anfahren und Impfungen vor Ort ermöglichen.“ Es müsse aber bei einem Angebot bleiben - dass Druck auf die Kinder ausgeübt werde, wollten die Eltern nicht.