Baoma Kpenge. .
Tod und Geburt liegen in Sierra Leone so nah beieinander wie fast nirgends auf der Welt. Das jahrelang von einem blutigen Bürgerkrieg geschundene, bitterarme kleine Land an der Westküste Afrikas geht dagegen an - mit viel Hilfe von außen.
Seit etwa zwei Stunden ist das Baby auf der Welt, in dem kleinen Dorf Baoma Kpenge im Süden Sierra
Leones. Der Säugling liegt zerknautscht in den Armen seiner Mutter, während sich eine weitere Frau im kärglichen Nebenzimmer abmüht, ein Baby zu gebären. Dieses Kind wird später tot geboren. Obwohl Krankenpfleger Martin Senesie (26) und die Geburtshelferinnen ungeachtet ihrer bescheidenen Mittel für dieses neue Leben gekämpft haben.
Doch das Baby rutschte viel zu langsam durch den Geburtskanal, auch wenn Senesie auf den Bauch der Mutter drückte und drückte. Notkaiserschnitte kann er nicht machen. Einen Arzt gibt es nicht in Baoma Kpenge. Und den mehr als spärlich ausgestatteten Gesundheitsposten trennen ein mit Schlaglöchern übersäter Feldweg und somit Stunden vom nächsten Krankenhaus. Willkommen bei einer Alltagsszene in Sierra Leone in Westafrika.
Die Fakten
Sierra Leone ist für Kinder laut der Hilfsorganisation „Save the Children“ der schlimmste Platz, um auf die Welt zu kommen: Jedes vierte Kind stirbt vor seinem fünften Geburtstag. Jedes dritte ist mindestens leicht unterernährt. - Einen kurzen Film mit der Geschichte eines unter- und mangelernährten Kindes in Sierra Leone können Sie hier sehen: Video -
Zudem sterben nirgends auf der Welt laut dem UN-Kinderhilfswerk Unicef mehr Mütter bei der Geburt als in dem westafrikanischen Land: Bei 1000 Geburten sterben 21 Gebärende. Im Schnitt bekommt jede Frau fünf Kinder. Viele Menschen in Sierra Leone sind arm - 70 Prozent der etwa fünf Millionen Einwohner haben weniger als einen US-Dollar am Tag zum Leben.
Auf dem Welthunger-Index belegt Sierra Leone den viertletzten Platz obwohl das am Atlantik liegende Land fruchtbar ist. Doch der Bürgerkrieg (1991 bis 2002) zerstörte weite Teile der Wirtschaft und die Infrastruktur. Etwa zwei Millionen Menschen flüchteten, tausende wurden getötet. Die Folgen spürt das Land bis heute.
Was der Staat plant
Der 27. April 2010 gilt als wichtiges Datum für alle Frauen und Kinder in Sierra Leone. An diesem Tag verkündete Präsident Ernest Koroma, dass Schwangere, stillende Mütter und Kinder unter fünf Jahren künftig kostenlos medizinisch betreut werden. Das betrifft etwa 1,5 Millionen Menschen.
„Nur mit einer gesunden Bevölkerung ist wirtschaftliches Wachstum möglich”, sagt Mohamed Koroma, der jüngst den Platz des wegen Korruption geschassten Gesundheitsministers einnahm - und nicht mit Präsident Koroma verwandt ist -, in der Hauptstadt Freetown. Er schweigt sich aus, wie das Land das „sehr teure” Gratis-Gesundheitsprogramm stemmen will. Die internationale Gemeinschaft jedenfalls steuere Geld bei. Sierra Leone setzt auch auf die vielen Hilfsorganisationen, die im Land tätig sind: „Wir haben eine sehr starke Partnerschaft mit ihnen.”
Zupass kommt dem Land, dass sich die UNO „Milleniums-Ziele” setzte. Unter anderem soll die
Kindersterblichkeit weltweit von 1990 bis 2015 um zwei Drittel sinken: von 10,6 auf 3,5 Prozent. Und die Müttersterblichkeitsrate soll um drei Viertel schrumpfen. Vom 20. bis 22. September lädt die UN zum Sondergipfel nach New York (USA) ein. Thema sind Fortschritte und Rückschläge bei diesen Zielen.
Die Realität
In Sierra Leone, im abgelegenen Dorf Baoma Kpenge haben die Menschen noch nie etwas von den Milleniums-Zielen gehört. Sie plagen andere Sorgen. Zum Beispiel, wie und ob sie auf ihren kleinen Feldern genug zum täglichen Essen ernten können.
An diesem Tag Anfang September aber ist Mütter- und Kinder-Morgen im Gesundheitsposten. Schätzungsweise 200 Frauen sind zu der kleinen Hütte nahe des Dorfbrunnens - der einzigen Wasserquelle gekommen. Sie haben ihre Kinder mitgebracht, alle sitzen draußen, im Halbkreis, im Schatten eines Riesenbaums. Sie singen und klatschen, eine rosagewandete Frau leitet mit Hilfe eines Megafons dieses Treffen. Krankenpfleger Senesie ist natürlich auch dabei. Hier erfahren die Mütter, wie wichtig das Stillen ihrer Babys ist. Und wie sie ihre Kinder ausgewogen ernähren, auch mit ihren kargen Mitteln.
Dass Cassava - die allgegenwärtige Wurzelknolle wird auch Maniok genannt - nicht genug Nährstoffe
hat, die ein Kind zum Gedeihen braucht, wusste Mamie Kamara nicht. Die 23-Jährige ist heute mit ihrer fast zweijährigen Tochter Rugiatu und ihrem einen Monat alten Sohn Mohammed aus dem Nachbardorf Congo gekommen, um die Kinder gratis untersuchen und vielleicht impfen zu lassen. Rugiatu ist viel zu leicht und klein für ihr Alter, apathisch lässt sie sich von ihrer Mutter tragen. Seit kurzem wird Rugiatu aufgepäppelt mit einem Brei aus Reis, Sesam und Bohnen, hergestellt in Hahun nahe Baoma.
Die Hilfsorganisation World Vision kauft fast alle dort hergestellten Päckchen mit dem beigen Breipulver und verteilt sie gratis, auch an Krankenpfleger Senesie - ebenso wie Arzneien oder Moskitonetze für die Menschen im von Malaria geplagten Gebiet. Senesie setzt angesichts der spärlichen Ausstattung seines Gesundheitspostens auf Hilfsorganisationen wie World Vision oder - für Notoperationen in der fernen Stadt Bo - „Ärzte ohne Grenzen”, um möglichst vielen Patienten zu helfen.
Weit weg, in Freetown im Gesundheitsministerium, sind all diese Nöte bekannt. „Wir haben wenig Ärzte”, seufzt Minister Koroma. Aber die neue Gratis-Gesundheits-Initiative für Mütter und Kinder werde Erfolg haben: „Scheitern ist keine Alternative.”
HINTERGRUND: Landesleistung so hoch wie Daimler-Gewinn
Sierra Leone steckte bisher etwa sieben Prozent seines Budgets in den Gesundheitsbereich. Angepeilt seien zehn Prozent, erklärt das Gesundheitsministerium. Bis wann, sei nicht absehbar: „Das ist ein Prozess.” Zudem müsse sich die wirtschaftliche Lage des kleinen westafrikanischen Landes bessern. Das Bruttosozialprodukt betrug 2009 etwa 1,46 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der Autobauer Daimler machte im Jahr 2008 etwa 1,41 Milliarden Euro Gewinn.
Wer den Menschen in Sierra Leone helfen möchte, kann das zum Beispiel über die Hilfsorganisation World Vision tun: www.world-vision.de. Informationen gibt es auch unter ihrer Gratis-Telefonnummer 0800-0102022.