Brüssel. Die SPD gehört zur SPE und die Liberalen zur ALDE: Im Europa-Parlament sitzen die Abgeordneten in "Parteifamilien" zusammen. Und EU-Muffel unter den Kandidaten der diesjährigen Europawahl hoffen diesmal auf steigenden Zuspruch.
Wer gewinnt?
Gewählt wird national, Land für Land, im Parlament sitzt man aber in „Parteifamilien“ zusammen: Christdemokraten, Sozialisten, Liberale, Grüne, Linke, Unabhängige, Nationalisten. Die Fraktionen werden erst nach den Wahlen gebildet, manche kleinere Parteien halten sich mehrere Optionen offen. Die Deutschen sind aber fest verpflichtet: CDU/CSU = Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP); SPD = Sozialdemokratische Fraktion (SPE); FDP = Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE); Grüne = Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz; Linke = Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke. Den Sieg werden EVP (bisher 288 Sitze) und SPE (217) unter sich ausmachen. Die EVP-Fraktion muss den Abgang der britischen Tories (bisher 27 MEP) und der tschechischen ODS (neun) verkraften, will aber trotzdem Nummer eins bleiben. CDU/CSU werden ihre 49 Mandate nicht ganz halten können.
Wer wird Präsident?
Vermutlich wird auch das kommende Parlament in der ersten Halbzeit der Legislatur einen anderen Präsidenten haben als in der zweiten. Die Frage ist, ob es für die beiden vermutlich größten Fraktionen (EVP, SPE) wieder zusammen zur Mehrheit der 736 Abgeordneten reicht. Dann könnten sie erneut halbe-halbe machen: Erst käme der polnische Christdemokrat Jerzy Busek für zweieinhalb Jahre auf den Präsidentensessel, dann der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz. Wenn die Liberalen als dritter Partner gebraucht werden, hat auch deren Spitzenkandidat Graham Watson eine Chance, besonders wenn eine „Ampel-Koalition“ ohne die EVP möglich ist. Sollten bei den Christdemokraten die Italiener die Deutschen als stärkste nationale Gruppe ablösen, werden sie verstärkt darauf drängen, anstelle Buzeks ihren Landmann Mario Mauro zu nominieren.
Wird die Beteiligung weiter sinken?
Die Bürger zeigen Europa die kalte Schulter. Bei der ersten Direktwahl 1979 lag die Wahlbeteiligung noch bei 62, 2004 nur noch bei enttäuschenden 45,5 Prozent. Kritiker machen das Wahlsystem verantwortlich. Denn streng genommen finden am Wahltag 27 nationale Abstimmungen statt. Deutsche wählen Deutsche, Franzosen Franzosen und Malteser Malteser. Die Folge: Nicht europäische, sondern nationale Themen beherrschen den EU-Wahlkampf, der von lustlosen Parteimanagern zwangsläufig mit angezogener Handbremse geführt wird. „Wir müssen dringend die Spielregeln ändern, sonst geht die Wahlbeteiligung weiter in den Keller“, warnt SPD-MEP Jo Leinen. Heißt: Die europäischen Parteifamilien sollen europäische Listen aufstellen. „Sonst erkennen die Bürger die europäische Dimension nicht.“ Leinens Appell: Schon am Montag müsse die Debatte über die Wahlreform beginnen.
Wie viele Europamuffel kommen ins nächste EP?
In die europäische Volksvertretung ziehen stets mehrere Dutzend Abgeordnete ein, die eigentlich entgegengesetzte Interessen verfolgen. Das sind einerseits rechtsextreme Nationalisten wie der Franzose Jean-Marie le Pen, bei denen es schon am Demokratie-Verständnis hapert, andererseits Leute, die als mehr oder weniger anständige Demokraten der EU skeptisch gegenüberstehen. Beide Lager könnten bei niedriger Wahlbeteiligung Zulauf bekommen. So hofft die stramm braune BNP (British National Party) auf den Einzug ins Parlament. Die EU-Muffel rechnen sich sogar Chancen aus, viertstärkste Fraktion (nach EVP, SPE und Liberalen) zu werden, mit den britischen Tories als Kerntruppe, verstärkt um Gesinnungsfreunde aus Tschechien, Polen, Italien, Frankreich und Skandinavien.
Wird neu gewählt, wenn der Lissabon-Vertrag kommt?
Noch gilt „Nizza“, aber spätestens am 1. Januar 2010 könnte der Lissabon-Vertrag in Kraft treten – vorausgesetzt die Iren sagen Ja. Was passiert dann mit dem EU-Parlament? Es wächst: von 736 auf 754 Abgeordnete. Zwölf der 27 EU-Länder werden davon profitieren, zum Beispiel Polen und Spanien, das dann 54 (bisher: 50) Abgeordnete stellt. Bizarr aus deutscher Sicht: Nach Nizza stehen uns 99, mit Lissabon aber nur noch 96 Mandate zu. Muss das überzählige Trio also schon nach einigen Monaten seine blauen Sessel im Plenarsaal räumen? Nein. Sie dürfen bis zum Ende der Legislaturperiode in Brüssel und Straßburg bleiben. Ungeklärt ist noch die Rolle der „Nachrücker“ in der Übergangsphase. Denkbar ist Beobachterstatus. Dann könnten sie an Ausschusssitzungen teilnehmen, hätten auch Rederecht, nur abstimmen dürften sie (noch) nicht.