Berlin. Am 2. Juni 1967 lieferten sich Studenten eine erbitterte Straßenschlacht mit der Polizei, wobei die Beamten überhart zulangten. Der Mann, der Benno Ohnesorg erschoss, war wohl Stasi-Spion – aber auch ein Auftragskiller?

Am Abend des 2. Juni 1967 war auf den Straßen im Westteil Berlins „Füchse jagen” angesagt. Die Polizei trieb Studenten zusammen, die gegen den Schah demonstriert hatten. Im Hinterhof der Krumme Straße 68 in Charlottenburg kam es zum Showdown. Um 20.30 Uhr sah sich Obermeister Karl-Heinz Kurras von der 1. Politischen Polizei in die Enge getrieben.

Er zog eine 7,65-Millimeter-Waffe und schoss auf sein Gegenüber. Die Kugel zertrümmerte den Schädel von Benno Ohnesorg (26). „Bist du wahnsinnig!”, habe ein Kollege gerufen, schreibt Stefan Aust im Standardwerk „Der Baader Meinhof Komplex”. Kurras stammelte: „Ist mir losgegangen”. Ohnesorg starb.

Der Vorgang als Fanal: In dieser Nacht radikalisierte sich der Studentenprotest. „Der faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden”, schrie eine junge Frau am Ku'damm. Ein Schwur. Gudrun Ensslin wurde die Managerin des RAF-Terrors.

Wer war Karl-Heinz Kurras?

Wer war Karl-Heinz Kurras? Zwei Forscher der Stasi-Unterlagen-Behörde, Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Labs, haben 42 Jahre nach dem Schuss und 20 Jahre nach dem Mauerfall Papiere des DDR-Geheimdienstes zum Fall Kurras zusammengetragen. Sie belegen: Der Polizist war seit April 1955 als „Otto Bohl” dessen Inoffizieller Mitarbeiter (IM). Er trug ihm fleißig Informationen zu, weil er sich „dem Friedenslager zur Verfügung stellen” wollte. Kurras, der Spitzel.

Kurras – auch agent provocateur? Kurras als V-Mann, der den Aufstand der Jugend gegen den verhassten Weststaat anheizen sollte? Kurras, der Auftragskiller? Hubertus Knabe, als Direktor der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen Experte für die Taten des Unrechtsregimes, hält - wie die Forscher Müller-Enbergs und Jabs auch - wenig von der Auftragsmord-These. Eher „unangenehm” sei der DDR-Führung der Schuss des IM gewesen, glaubt er, die Angst groß, jetzt fliege ihr Spion auf. Kurras habe wohl „im Affekt” gehandelt.

Sein vorher reges Leben in den Akten der Stasi erlosch abrupt, intern sprach sie von einem „bedauerlichen Unfall”. Der Prozess, der folgte, blieb reine Angelegenheit West. Kurras wurde freigesprochen - aus Mangel an Beweisen. Seither lebt er, jetzt 81 und die Tat nach wie vor rechtfertigend, in einer Siedlung in Spandau.

Doch die Debatte über die Hintergründe des 2. Juni wird mit der Enthüllung der Dokumente erst beginnen. Zu oft versuchte die Stasi, mit Intrigen und Gewalt die großen politischen Trends im Westen zu drehen. Eine Spezialeinheit, die AGMS, war darauf trainiert. Deren Agenda liest sich wie ein Thriller.

Der geflüchtete Fußballstar Lutz Eigendorf starb bei einem von der Stasi fingierten Autounfall. Gekaufte Bundestagsabgeordnete trugen dazu bei, dass das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt 1972 scheiterte. Desinformationskampagnen wurden inszeniert. Man verbreitete Lügen über den angeblichen „KZ-Baumeister Lübke” und steckte möglicherweise - bis heute unbewiesen - auch die Chemiefabrik Sandoz in Basel an.

Zu viel von der „kriminellen Energie der kommunistischen Dienste” (Knabe) ist immer noch unaufgeklärt. 16 000 Säcke stehen in der Birthler-Behörde - mit ungelesenen, weil zerrissenen Akten.