Brüssel. Sonia ist 15 Jahre, als sie ein Taxifahrer in Nicaragua auf der Straße anspricht. Mit ihrem Aussehen, sagt er, würde sie leicht Arbeit als Model in Europa finden; er würde ihr bei der Ausreise helfen. Doch in Deutschland landet sie im Bordell. Seitdem lebt sie wie eine Gefangene.
Sonias Leidensgeschichte ist nur ein Beispiel, das die UN-Organisation gegen Kriminalität und Drogen (Unodc) dokumentiert hat und das Politiker wie Experten in der EU gleichermaßen alarmiert: Immer mehr junge Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Männer zu Einbrüchen und Diebstählen genötigt, immer mehr Kinder müssen betteln gehen.
Mehr Minderjährige betroffen
Gestern einigten sich deshalb die Innenminister verschiedener Länder, die EU-Kommission und Vertreter zahlreicher Hilfsorganisationen auf einer Konferenz in Brüssel, schärfer gegen das Verbrechen vorzugehen. „Es handelt sich um eine Form der modernen Sklaverei, die wir nicht hinnehmen dürfen“, erklärte EU-Innenkommissar Jacques Barrot.
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Rund 270 000 Opfer von Menschenhandel leben in der EU - nach dem Handel mit Drogen und Waffen weltweit das am meisten verbreitete Verbrechen. Und es breitet sich rasend schnell aus. Vor allem der Handel mit Kindern und Jugendlichen hat zuletzt stark zugenommen – laut Unodc ist der Anteil minderjähriger Opfer zwischen 2003 und 2007 von 15 auf fast 22 Prozent angestiegen, verlässliche Statistiken fehlen allerdings bislang.
Die meisten Opfer landen in der Prostitution, der Austausch von pornografischen Bildern und Filmen im Internet floriert. Möglicherweise werde die Wirtschaftskrise das Problem noch verschärfen, schätzt die Organisation. Denn es sind vor allem Arbeitslosigkeit und Armut, die junge Menschen in die Fänge skrupelloser Händler treibt. Viele Opfer kommen erfahrungsgemäß aus Südosteuropa, aus Bulgarien oder Rumänien, aber auch aus Asien und Lateinamerika.
Verschwunden in Lampedusa
Sorgen bereitet den Experten zudem, dass immer mehr Kinder aus europäischen Einwanderungszentren verschwinden – allein aus den Flüchtlingslagern der italienischen Insel Lampedusa waren es im vorigen Jahr 400 von rund 1200 Minderjährigen, die in die Hände von Sexhandelsringen gefallen sein könnten.
„Wir brauchen EU-weite Mindeststandards für den Schutz von Opfern“, fordert Anastasia Crickley, Vorstandsmitglied der Europäischen Grundrechteagentur. „Minderjährige dürfen nicht abgeschoben werden, wenn man sie aufgreift.“ In Deutschland und den meisten anderen EU-Staaten werde das Aufenthaltsrecht nur dann erteilt, wenn die Betroffenen mit Polizei und Justiz kooperierten. Außerdem gebe es bislang keine EU-weite Definition von Kinderhandel. Allzu oft würden bettelnde oder stehlende Kinder als Täter behandelt und entsprechend zur Verantwortung gezogen.
Auch Straftäter sollen nach dem Willen der EU-Kommission schärfer verfolgt werden. Im März hatte Barrot bereits einen Vorschlag vorgelegt, wonach Sextouristen nach ihrer Rückkehr in die Heimat vor Gericht gestellt werden können. In allen Mitgliedsstaaten soll Tätern zudem eine Höchststrafe von sechs Jahren oder mehr drohen. Über entsprechende Vorschläge werden die Innenminister der EU-Staaten noch in den kommenden Wochen abstimmen. Ein „Ja“ wäre laut Grundrechteagentur ein riesiger Fortschritt.