Essen. Politik versteht Bildung als die beste Sozialpolitik. Doch damit wird ihr zu viel zugemutet, meinen Soziologen. Viele sozialen Probleme ließen sich allein durch Bildung nicht nachhaltig lösen: Vielmehr seien Investionen im Sozialbereich nötig, um benachteiligten Kindern eine Chance zu geben.
Unser rohstoffarmes Land hat nur eine Chance: Bildung. Man hörte es so oft, dass es jeder herunterbeten kann. Wie es damit aber genau bestellt ist, lässt sich an einer beliebigen Hauptschule besichtigen. Dort wird wegen fehlender Ausbildungsplätze geübt, Hartz-Anträge auszufüllen. Dümmer wurden diese Kinder nicht geboren, denn Begabung ist über alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig verteilt – ob arm, ob reich. Was also kann Bildung leisten?
Viel, aber nicht alles, meinen Experten. Über den „Mythos Bildung” diskutiert ab Donnerstag die Jahrestagung der Sektion Sozialpolitik der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Essen. In den politischen Debatten beobachten die Soziologen seit einiger Zeit eine starke soziale Bedeutungsaufladung der Bildung: Plötzlich soll sie der Königsweg sein zur Lösung sämtlicher sozialen Probleme.
Schlüssel zur sozialen Teilhabe
Prof. Ute Klammer, im Vorstand der Sektion und Prorektorin der Universität Duisburg-Essen: „Die Parteien sehen Bildung als den Schlüssel zur sozialen Teilhabe. Das wollen wir auf der Tagung kritisch beleuchten.” Denn einige Probleme seien eben nicht allein mit einem besseren Schulabschluss gegessen. Etwa das Armutsproblem alleinerziehender Mütter. „Hier fehlt es meist nicht an Bildung, sondern an Hilfen, Betreuung und Kita-Plätzen.” Die Zahl der Schulabbrecher ist zu hoch, es fehlen Lehrstellen und Arbeitsplätze. „Viele jungen Menschen landen in der beruflichen Sackgasse. Da hilft Bildung wenig”, sagt Klammer.
Der unausgesprochen mitschwingende Vorwurf der Soziologen lautet: Mit der Fokussierung auf die Bildung mache sich die Politik einen schlanken Fuß und vernachlässige das Soziale. „Der Bildung wird zu viel aufgebürdet”, meint Prof. Klammer.
Kritik an der "Bildungsrhetorik"
Überdies seien Bildung und Soziales in Deutschland kurioserweise finanziell getrennte Bereiche. Im Gegensatz etwa zu den angelsächsischen Ländern sei Bildung im Sozialbudget nicht berücksichtigt. Ein Großteil des deutschen Sozialbudgets fließe in Sektoren mit eher geringem Zukunftsprofil, etwa die Alterssicherung, schreibt Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). „Zukunftsorientierte Leistungen, zu denen auch Bildung und Forschung gehören, weisen dagegen eine relativ geringe Finanzierung auf”, so Allmendinger weiter.
Das wiederum widerspricht der so oft gehörten Parole von der Vorfahrt für Bildung. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt investiert Deutschland rund 20 Prozent weniger in die Bildung als vergleichbare Länder, sagt Klammer. So müsse die frühkindliche Bildung gestärkt werden, zudem „leisten wir uns ein hochselektives Schulsystem”. Und wieso gibt es mit dem entsprechenden Schulabschluss ein Recht auf einen Studienplatz, aber keines auf einen Ausbildungsplatz? Am Ende steht schließlich ein unterfinanziertes Hochschulsystem. So betrachtet müsse man fragen, so Ute Klammer, „was die Bildungsrethorik eigentlich bedeutet”.