In Frankreich nehmen sich auffällig viele Beschäftigte in ihrem Betrieb das Leben.Gewerkschaften kritisieren den extremen Druck: Entweder man hält durch oder wird gefeuert
Paris. Eine Selbstmordserie in französischen Großbetrieben rüttelt die Öffentlichkeit auf.
In zwei Wochen hätte Mario Graffis Urlaub begonnen, in fünf Jahren wäre er in Rente gegangen. Doch der 55-Jährige hatte offenbar keine Kraft mehr, so lange zu warten. Anfang der Woche erhängte sich der fünffache, geschiedene Familienvater an seinem Arbeitsplatz im elsässischen Peugeot-Werk Mülhausen. Der sechste Selbstmord war das seit Jahresanfang im Konzern, davon allein fünf im Mülhauser Werk mit seinen gut 10 000 Beschäftigten. Einen Abschiedsbrief, eine Erklärung für den Freitod, hatte Graffi nicht hinterlassen. Doch sich an seinem Arbeitsplatz umzubringen, ist nach Ansicht des Mülhauser Gewerkschafters Vincent Duse eine unmissverständliche Botschaft. "Im Namen der Rentabilität haben sich die Arbeitsbedingungen erheblich verschlechtert. Selbst am Band steht jeder in Konkurrenz zu seinem Nachbarn. Die Schwächsten können irgendwann nicht mehr."
Wegen der vorausgegangenen Selbstmorde hatte die Unternehmensleitung bereits ein rund um die Uhr mit Psychologen besetztes Krisentelefon außerhalb des Betriebes eingerichtet, an das sich gestresste Arbeitnehmer wenden können. Eine ärztliche Beratungsstelle nahm vor wenigen Tagen ihre Tätigkeit in der Autofabrik auf. Doch für Mario, der seit 1978 das Fließband mit Montageteilen für 1500 Euro im Monat bestückte, kam das offenkundig zu spät.
"Zutiefst berührt und schockiert", reagierte die Pariser Konzernzentrale auf den jüngsten Selbstmord, warnte allerdings vor einseitigen Schuldzuweisungen. Die Freitod-Serie im Peugeot/Citroen-Konzern PSA ist indes kein Einzelfall. Beim Konkurrenten Renault, beim Energiegiganten EDF, beim Automobil-Zulieferer Valeo häufen sich Freitode. Arbeitsminister Xavier Bertrand kündigte nun an, sich mit den Arbeitsbedingungen in den Großbetrieben befassen zu wollen.
Bis zu 400 Selbstmorde am Arbeitsplatz verzeichnet Frankreich pro Jahr - damit steht das Land in dieser traurigen Statistik weltweit an dritter Stelle, hinter der Ukraine und den USA. Bislang freilich wurde das sensible Thema eher totgeschwiegen. Renault etwa brauchte reichlich lange, um einzuräumen, dass "der Druck auf die Beschäftigten objektiv sehr groß ist". Drei Selbstmorde binnen vier Monaten hatten die Gewerkschaften Anfang des Jahres alarmiert. Drei der Freitode in einem hochmodernen Entwicklungszentrum bei Paris hat die Arbeitsschutz-Behörde inzwischen sogar als "Arbeitsunfälle" eingestuft, was den Hinterbliebenen die Möglichkeit gibt, juristisch gegen Renault vorzugehen. Auch die Staatsanwaltschaft von Versailles ermittelt, prüft, ob etwa Vorgesetzte ihre Untergebenen herabwürdigten.
Unbestritten ist, dass unter der Knute des neuen Renault-Chefs Carlos Ghosn und des neuen PSA-Chefs und kurzzeitigen Airbus-Bosses Christian Streiff das Tempo in den Automobilfabriken erheblich angezogen hat. Beide Konzerne haben Marktanteile verloren, stehen unter Druck, Boden wieder gutzumachen. Unter Streiff gilt: Rationalisieren, ausgliedern, eine Flut neuer Modelle bis 2010 - "entweder man hält durch oder wird gefeuert", klagt ein Arbeiter in Mülhausen. "Jeden Monat werden Stellen gestrichen. Und wer krank wird, erhält einen Brief von der Unternehmensleitung mit der Kündigungsdrohung", klagt ein weiterer Beschäftigter.
150 derartiger Schreiben hat die Hausgewerkschaft CGT nach eigenen Angaben inzwischen vorliegen. Krisentelefon und ärztliche Beratungsstellen reichen nach Ansicht der Gewerkschaften bei weitem nicht aus, um die "vergiftete Atmosphäre" in den Fertigungshallen zu verbessern.