Bonn. Den riesigen Microsoft-Rechenzentren im Rheinischen Revier soll Anwendungskompetenz folgen. Manchem in NRW macht das Angst.
Am Ende seines Vortrags wirft Uli Homann ein Foto von „Scotty“ an die Wand des Bonner World Congress Centers (WCC). Die Szene zeigt den legendären Chefingenieur der Science Fiction-Reihe „Star Trek“, der in den 80er Jahren lernen muss, dass man in eine Maus nicht sprechen kann („Hallo Computer!“). Scottys Vision, sagt Homann feierlich, sei endlich Wirklichkeit geworden. Zustimmendes Murmeln.
Der Microsoft-Manager gehört zu einer ganzen Riege von Führungskräften des US-Konzerns, die am Mittwoch zu einer zweitägigen „Roadshow“ in die alte Bundeshauptstadt gekommen sind. Vor mehr als 1000 Experten werden hier die Vorzüge der hauseigenen Künstlichen Intelligenz (KI) „Copilot“ gepriesen. Die „Trainer“ sollen hinterher ausschwärmen und sich in einem „digitalen Ökosystem“ kreativ fortpflanzen. Man werde gemeinsam Geschäftsmodelle entwickeln, prophezeit Microsoft-Managerin Edith Wittmann.
Weitere „Roadshows“ sind bislang nur in Japan, Indien und den USA geplant. Dass Microsoft neuerdings NRW als „place to be“ intensiv bespielt, hängt mit der größten Deutschland-Investition der Firmengeschichte zusammen. Zu Jahresbeginn hatte der US-Riese bekannt gegeben, dass im Rheinischen Braunkohlerevier binnen weniger Monate riesige Rechenzentren entstehen sollen. Weltweit werden gerade 500 solcher Speicherkapazitäten aufgebaut.
KI-Rechenzentren brauchen viel Platz und Strom - NRW hat beides
Sie sind die Voraussetzung für komplexe KI-Anwendungen, brauchen aber viel Platz und Strom. Da NRW an diesem geschundenen Fleckchen zwischen Mönchengladbach und Köln beides verfügbar hat und auch noch geografisch an den großen europäischen Netzknotenpunkten mit vielen potenziellen Nutzern liegt, ergab der mehr als drei Milliarden Euro schwere Ansiedlungsdeal Sinn.
Mit der gewaltigen neuen Infrastruktur will Microsoft natürlich Geld verdienen und leistet deshalb umfassende KI-Entwicklungshilfe. Vor allem Mittelständler in NRW, die öffentliche Verwaltung und Privatleute sollen die Vorzüge der neuen Technik erkennen. Nach den Sommerferien schickt Microsoft obendrein ein „KI-Mobil“ zu den NRW-Schulen und will 10.000 Jugendliche fortbilden.
Es gehe darum, KI nutzbar zu machen und in die Breite zu tragen, sagt Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bei seiner Eröffnungsrede in Bonn. „Das ist nicht der Selbstzweck und ist auch kein Produkt, das irgendjemand haben will, sondern die Leute müssen Lust drauf haben, es zu nutzen“, sagt der Regierungschef. Wüst hat sich spätestens mit seiner Reise vor einigen Wochen zum Microsoft-Hauptquartier nach Redmond nahe Seattle zum emsigsten KI-Werbebotschafter entwickelt.
Wüst hofft auf KI-Fortschritte in der medizinischen Forschung
Oppositionsführer Jochen Ott (SPD) monierte am Montag, der Anteil des Ministerpräsidenten am Ansiedlungserfolg sei „gleich Null“. Sogar die Bürgermeister der Gemeinden, in denen die Rechenzentren wachsen sollen, habe die schwarz-grüne Landesregierung in den langwierigen Verhandlungen mit den Amerikanern nicht unterstützt. Wie schon in Redmond umgarnt Microsoft aber Wüst trotzdem kräftig, schließlich lockt bei Genehmigungsverfahren in öffentlichen Verwaltungen ein weites KI-Anwendungsfeld. „Was mich fasziniert und begeistert, ist die Entschlossenheit, mit der der Ministerpräsident das Thema KI angeht“, schwärmt die neue Microsoft-Deutschland-Chefin Agnes Heftberger, die zuvor 20 Jahre bei IBM gearbeitet hat.
Wüst hat fraglos erkannt, dass es bei KI nicht um die nächste Spielerei geht, etwa allein um Bequemlichkeitsdienste wie Übersetzungen in Echtzeit, Textarbeit, automatische Email-Antworten oder autonomes Fahren. Der Ministerpräsident, der als Abiturient seine Mutter an den Krebs verloren hat, hofft vielmehr auf Fortschritte in der Medizinforschung. „KI kann ganze Forschungsschritte aus dem Labor in den Rechner holen und dadurch unglaublich viel schneller werden“, sagt er. Auch Chemotherapien könnten schonender konzipiert werden. In den USA helfen Kamera und Computer zudem Ärzten längst bei der Patientenaufnahme und Diagnose.
Allein in NRW soll KI zusätzlich 68 Milliarden Euro Wertschöpfung bringen
Allein in NRW sollen durch die Nutzung von Künstlicher Intelligenz knapp 68 Milliarden Euro an zusätzlicher Wertschöpfung freigesetzt werden. Microsoft versucht Wirtschaft und Gesellschaft auf eine „Revolution“ einzustimmen, die seit anderthalb Jahren von vielen unbemerkt gestartet sei. „Ein Computer ist kein menschliches Wesen, aber er lernt, wie wir denken und handeln“, sagt Microsoft-Manager Homann. KI-Anwendungen werden bald komplexere Pläne machen können und sich in Sekundenschnelle über Dekaden erinnern. Der nächste Sprachassistent wird die medizinische Fachsprache beherrschen oder in kompliziertesten Konstrukten der Hochfinanz zuhause sein.
Erlerntes Wissen hält nicht mehr ein Leben lang, mahnt Microsoft. Nach sechs bis acht Monaten sei es künftig veraltet, nach fünf Jahren wertlos. Jede Industrie werde von der nächsten IT-Generation durchdrungen werden. Wüst weiß, dass solche Szenarien oder die Sorge um die Cybersicherheit vielen Menschen Angst macht. Microsoft betont indes, dass ein bearbeitetes Dokument „weiter Dir gehört“ und 99 Prozent der Hacker-Angriffen mit relativ einfachen Mitteln heute abzuwehren seien. Der Rest bleibt allerdings ein Problem.
Als in Bonn der nächste KI-Entwicklungsschritt an die Wand geworfen wird, ist der Ministerpräsident schon wieder auf dem Weg nach Düsseldorf. Da der Mensch ja auch nicht durch die Lektüre von Millionen Büchern bis zum siebten Lebensjahr ein intelligentes Wesen werde, heißt es nun, müsse KI absehbar per Video und Audio lernen können. Scotty, bitte übernehmen.