Seattle. Google, Microsoft, OpenAI: Eine Woche tourte Ministerpräsident Wüst durch die USA - und ahnt jetzt besser, was auf sein Land zukommt.
Die sagenumwobene Microsoft-Unternehmenszentrale in Redmond, Großraum Seattle, mag Hendrik Wüst auf den ersten Blick so schmucklos erscheinen wie eine durchschnittliche Gesamtschule zuhause in NRW. Dass der NRW-Ministerpräsident hier aber überhaupt einen Termin bekommen hat, ist nicht selbstverständlich.
Microsoft-Vize Brad Smith, zu dem Staatenlenker aus aller Welt pilgern, empfängt ihn eine halbe Stunde lang und stellt sich hinterher mit dem Gast aus Germany für die Kameras auf. Gar nicht so leicht, weil bei Microsoft aus Sicherheitsgründen fast nirgendwo gefilmt werden darf.
Smith hält eine Glaskugel in der Hand, die flüssige Braunkohle aus dem Rheinischen Revier umschließt. Ein Gastgeschenk von Wüst. Der Microsoft-Mann revanchiert sich mit netten Worten über NRW, die auch als Selbstlob zu verstehen sind. Schließlich investiert der Konzern gerade 3,2 Milliarden Euro in Deutschland, den Großteil davon in riesige Rechenzentren im Rheinland.
Microsoft hofft, dass auch Konkurrenten in NRW investieren werden
Laut Smith ist das alles kein Zufall: „Denn wir investieren aus einem wichtigen Grund in NRW: der Region, ihren Menschen, den Ressourcen, der Politik, der Regierung und der Führung.“ Besonders das Lob für Wüsts „Leadership“ gefällt seinem PR-Team augenscheinlich extrem gut. Er hoffe sehr, sagt Smith noch, „dass auch unsere Konkurrenten darüber nachdenken, in unsere Fußstapfen zu treten.“
Das kann sogar gut sein. Denn hinter dem Microsoft-Investment steht der bevorstehende Einzug der Künstlichen Intelligenz (KI) in wohl fast alle Geschäfts- und Lebensbereiche. Dafür braucht es perspektivisch gewaltige Rechnerkapazitäten. Die günstige Lage Nordrhein-Westfalens an Knotenpunkten wichtiger europäischer Datentrassen, das im internationalen Vergleich große Flächenangebot sowie die Dichte von Menschen und Firmen machen das Land interessant für Tech-Riesen.
600.000 Unternehmen in Deutschland nutzen KI bereits heute
Wüst will sich in den USA persönlich ein Bild davon machen, welche Umwälzungen da auf Menschen und Wirtschaft zukommen. Schulter an Schulter mit Microsoft-Vize Smith scheint dem sonst so kontrolliert redenden Ministerpräsidenten zwischenzeitlich fast das Herz überzugehen. Rhetorisch verirrt er sich kurz im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: „Die Chancen zu nutzen ist eine riesige Chance in dieser Zeit, und aus dieser Chance erwächst auch, das ist meine Überzeugung, die Verpflichtung, diese Chancen zu nutzen“, sagt Wüst wörtlich.
Das Wertschöpfungspotenzial durch Künstliche Intelligenz soll allein in NRW bei knapp 68 Milliarden Euro legen. 600.000 Unternehmen nutzen KI bereits. Die meisten beim Verfassen von Dokumenten, in der Datenanalyse oder für die Internetrecherche.
Doch die Entwicklung geht längst weiter. Die Übersetzung von Telefongesprächen in Echtzeit wird die internationale Kommunikation verändern. Microsoft arbeitet zudem an einer Programmiersprache für Maschinen, die dann auch von Mittelständlern mit einfachen Anweisungen zu bedienen sind. In der Medizin warten in der Befundanalyse und in der Therapie ganz neue Möglichkeiten.
Bevor Wüst zu Microsoft nach Seattle geflogen ist, tourt er bereits durch das Silicon Valley. „Die US-Westküste sprüht vor Ideen und Tatkraft, vor Neugierde und dem Willen, technologische Grenzen zu verschieben. Das verbindet uns. Nordrhein-Westfalen ist auf dem Weg zur führenden Digital- und Quantenregion in Deutschland und Europa“, wirbt Wüst beim einem Symposium in San Francisco.
Wüst wird eine neue 3 D-Konferenzsoftware vorgeführt
Auf dem Campus von Google wird dem Ministerpräsidenten eine neue Konferenzsoftware in 3 D-Technik präsentiert, die demnächst Marktreife erreicht. Die Gespräche lassen sich dadurch so führen, als sitze man in einem Raum. Für die Aus- und Weiterbildung oder die Telemedizin ergeben sich so ganz neue Möglichkeiten. Der deutsche Google-Manager Jens Redmer betont, dass auch das kleinteilig organisierte Wirtschaftsmodell in Deutschland profitieren könne: „Alles, was der Digitalisierung des Mittelstands hilft, hilft uns auch.“ Deutschland habe das Potenzial, „Weltmeister in der Anwendung zu sein“.
Vor 20 Jahren war Google eine reine Suchmaschine, die mit digitalen Anzeigen ihr Geld verdiente. Inzwischen werden fast 20 Prozent des Umsatzes mit Geschäftsmodellen erzielt, die sich mit dem enormen Wissen über Interessen, Eigenschaften und Bewegungsprofile der Nutzer weltweit befeuern lassen. Es fließt ein in hauseigene Hardware wie das Google Pixel-Handy oder Anwendungen wie Google Maps oder Google Übersetzer. Ein Wachstumsmarkt ist das Geschäft mit Cloud-Diensten, untechnisch gesprochen: mit dem gewaltigen Speicherplatz für all die Datenmengen, die Unternehmen mit der Digitalisierung anhäufen.
Kent Walker, Chef von Alphabet, dem Mutterunternehmen von Google, gibt Wüst mit, dass es nicht darum gehe, am Ersetzen menschlicher Intelligenz zu arbeiten, sondern an deren Unterstützung. Seine Erfahrung: „Was der Mensch gut kann, kann der Computer schlechter. Was der Computer gut kann, kann der Mensch schlechter“, sagt Walker.
Wüst macht sich dennoch keine Illusionen darüber, dass KI über kurz oder lang jeden Lebensbereich revolutionieren wird, in dem ein Computer durch den Zugriff auf digitalisiertes Erfahrungswissen schneller Antworten geben kann als der Mensch: bei der Auswertung von Krankenakten, beim Entschlüsseln von Proteinen, beim Ausbalancieren von Netzschwankungen durch grünen Strom, bei automatisierten Produktionsprozessen, bei Übersetzungsdienstleistungen, im Schriftverkehr sowieso.
In den falschen Händen kann KI die Wirkung eine Atombombe entfalten
Wüst weiß, dass Fragen von Datensicherheit und geistigem Eigentum nicht abschließend geklärt sind: „Wir brauchen eine Werte-Allianz für Künstliche Intelligenz“, fordert er bei einer einer Rede im Silicon Valley. KI könne auch zur Gefahr werden, wenn sie als Waffe und zur Unterdrückung eingesetzt werde. In den Händen von Kriminellen oder Diktatoren könne sie die Wirkung einer Atombombe entfalten, räumt der SAP-Manager Yaad Oren bei einer Podiumsdiskussion ein.
Wie erbittert der Wettlauf um die Zukunftstechnik geführt wird, merkt Wüst, als er in San Francisco mit Chris Lehane verabredet ist. Der Mann ist Berater von Sam Altman, dem Chef von OpenAI. Die Firma ist als Erfinder von ChatGPT inzwischen weltweit ein Begriff. Wüst wird nur in kleinem Kreis empfangen, an einem Ort ohne Büroschild. Der Ministerpräsident darf keine Fotos machen und nichts in den Sozialen Netzwerken posten, damit keine Rückschlüsse auf den Standort gezogen werden können.
Wenn man die einwöchige US-Tour des NRW-Regierungschefs von der neuen Microsoft-KI „Copilot“ bilanzieren lässt, fällt das Fazit übrigens freundlich aus: „Insgesamt war Wüsts Reise eine Mischung aus Wirtschaftswerbung, Raumfahrtbegeisterung und politischem Geschick.“