Berlin/Brüssel. Wladimir Putin feuert Marine-Chef: Wie gefährlich sind seine schweren Verluste im Schwarzen Meer, was erklärt den Erfolg der Ukraine?
Es sind überraschende Niederlagen der russischen Angreifer im Ukraine-Krieg – jetzt zieht Präsident Wladimir Putin die Notbremse: Der Kremlherrscher hat den Chef der russischen Marine, Admiral Nikolai Jewmenow, entlassen. Er wird ersetzt durch den bisherigen Nordflotten-Kommandeur Aleksandr Moiseyev. Offensichtlich eine neue Reaktion auf die dramatischen Verluste der russischen Schwarzmeer-Flotte: Allein in den letzten sechs Monaten hat die 15 russische Schiffe versenkt, wie der Chef des US-Geheimdienstes CIA, William Burns, soeben vor amerikanischen Abgeordneten vorgerechnet hat.
Die Ukraine hat seit Kriegsbeginn fast ein Drittel der Schwarzmeer-Flotte zerstört
Jüngste Ziele: In der ersten Märzwoche wurde vor der Halbinsel Krim das schwere Patrouillenboot „Sergej Kotow“ von einem Schwarm ukrainischer Kamikazedrohnen „Magura V5“ getroffen und versenkt, wenige Wochen zuvor waren das Landungsboot „Cäsar Kunikow“ und die Raketenkorvette „Ivanovets“ ebenfalls von Magura-Wasserdrohnen so beschädigt worden, dass sie untergingen. Insgesamt hat die Ukraine seit Beginn des Kriegs fast ein Drittel der Schwarzmeer-Flotte aus 80 einsatzfähigen Schiffen zerstört, wie die Armeeführung in Kiew erklärt. Schätzungen westlicher Militärbeobachter liegen in ähnlicher Größenordnung. Im Februar hatte deshalb schon Flotten-Kommandeur Wiktor Sokolow seinen Posten räumen müssen.
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Während die ukrainische Gegenoffensive an Land gescheitert ist und die russischen Truppen Boden gewinnen, bereitet Kiew den Invasoren auf dem Wasser eine schwere strategische Niederlage: „Die Ukraine hat im Grunde den Krieg um die Kontrolle über die westliche Hälfte des Schwarzen Meeres gewonnen“, sagt Polens Außenminister Radoslaw Sikorski. Weil die Blockade ukrainischer Häfen durchbrochen sei, könne ukrainisches Getreide jetzt wieder über den Bosporus nach Afrika und die China gebracht werden. Im Februar erreichten die Exporte den höchsten Stand seit Beginn des russischen Überfalls.
Noch wichtiger ist der strategische Effekt: Weil die Schwarzmeer-Flotte zum Teil verlegt werden musste, ist der Schutz für die von Russland besetzte Krim schwächer geworden. Gleichzeitig schwinden die Möglichkeiten von Putins Truppen, vom Meer aus Angriffe auf die Ukraine zu starten – der Beschuss mit Kalibr-Marschflugkörpern ist deutlich zurückgegangen. Von ihren Kriegsschiffen, auch von den beiden jetzt versenkten, „Sergej Kotow“ und „Ivanovets“, hatte die russische Marine immer wieder Raketen abgefeuert, um etwa die ukrainische Energieversorgung zu beschädigen.
Zudem muss die Ukraine nicht mehr befürchten, dass russische Invasoren ihre strategisch wichtige Hafenstadt Odessa vom Meer aus mit Landungstruppen zu erobern versuchen. Schließlich ist der militärische Wert der Krim gesunken. Die Schmach ist so groß, dass Putin den Wechsel der Marine-Führung kurz vor den Präsidentschaftswahlen nicht öffentlich thematisieren wollte. Die Meldung unter anderem in der regierungsnahen Zeitung Iswestija wurde nicht dementiert, westliche Geheimdienste bestätigen sie, aber Kreml-Sprecher Dmitiri Peskow sagt nur, er könne die Nachricht nicht kommentieren, weil die entsprechenden „Dekrete als geheim eingestuft sind“.
Aber wie kann die Ukraine, die nicht einmal über eine funktionierende Marine verfügt, die stolze Schwarzmeer-Flotte zu einem guten Teil schon vernichten – und sie zum Rückzug von der für Putins Ansehen so wichtigen Krim zwingen? Der Erfolg verdankt sich asymmetrischer Kriegsführung mit selbst entwickelten Drohnen, Raketen aus eigener und westlicher Produktion und Marschflugkörpern, die Frankreich und Großbritannien geliefert haben. Westliche Nachrichtendienste helfen offenbar bei der Zielauswahl mit genauen Informationen aus ihrer Aufklärung. Der erste große Schlag gelang im April 2022, als die Ukraine mit ihrer Antischiffsrakete vom Typ „Neptun“ die „Moskwa“ versenkte, bis dahin das Flaggschiff der Schwarzmeer-Flotte.
Spätere Angriffe erfolgten öfter mit unbemannten, mit Sprengstoff beladenen Drohnen-Booten, die auch im Schwarm angreifen. Britische Marschflugkörper vom Typ „Storm Shadow“ haben unter anderem im September ein U-Boot im Trockendock in Sewastopol und das Hauptquartier der Schwarzmeer-Flotte getroffen. Alle Versuche der russischen Seite, die Flotte besser zu schützen, sind gescheitert. „Sie haben keine wirksame Lösung, um die Sicherheit ihrer Kriegsschiffe zu erhöhen“, sagt der ukrainische Militäranalyst Oleksandr Kovalenko. Tatsächlich blieb nur der teilweise Rückzug von der Flottenbasis Sewastopol auf der Krim nach Noworossijsk an der russischen Schwarzmeer-Küste, dessen Hafen aber deutlich weniger Möglichkeiten bietet. Die Marine kann die Verluste auch nicht durch die Verlegung von Schiffen der baltischen Flotte ausgleichen: Die Türkei sperrt auf der Grundlage internationaler Verträge für nicht im Schwarzen Meer registrierte Kriegsschiffe die Durchfahrt durch den Bosporus.
Sicherheitsexperte: Entscheidung fällt nicht auf See, sondern an Land
Militärbeobachter warnen indes davor, die ukrainischen Erfolge zu überschätzen: Es gelinge zwar durch derartige Aktionen den Blick von Misserfolgen abzulenken, sagt etwa der österreichische Sicherheitsexperte Markus Reisner. Aber: „Die Entscheidung in diesem Krieg fällt nicht zur See, sondern an Land.“ CIA-Chef William Burns rät dennoch, die Ukraine für den Seekrieg aufzurüsten: In einer Anhörung vor Abgeordneten meinte Burns, die Ukraine könne ihre Erfolge fortsetzen und noch deutlich mehr weitreichende Angriffe gegen die Krim und die Schwarzmeerflotte ausführen - wenn der Westen seine militärische Hilfe aufstocke.