Brüssel/Berlin. Die Ukraine steht vor schweren Kriegsmonaten, Russland macht zunehmend Druck – und die Zweifel an der Solidarität des Westens wachsen.
Die Ukraine steht vor dramatisch schweren Kriegsmonaten. Die Armeeführung erwartet eine neue Welle von russischen Terrorangriffen gegen die Zivilbevölkerung und die Energieversorgung. Diese Schläge könnten jeden Tag beginnen, warnt Luftwaffensprecher Jurij Ihnat. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt eine neue düstere Phase des Krieges voraus. Die ukrainische Gegenoffensive ist weitgehend gescheitert, es fehlt an Waffen, Munition und Geld.
Zwar hat die russische Armee enorme Verluste erlitten – dennoch kann Russland überraschend Druck machen im brutalen Stellungskrieg. „Wir dürfen Russland nicht unterschätzen“, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Militärexperten warnen vor einem möglichen russischen Sieg, wenn der Westen nicht handelt. Fünf Gründe, warum Präsident Wladimir Putin jetzt im Vorteil ist.
1. Russland verfügt über einen großen Raketenvorrat
Russland hat in den vergangenen Monaten gezielt Marschflugkörper zurückgehalten und einen großen Raketenvorrat aufgebaut, mit dem es die Ukraine im Winter „in Dunkelheit und Kälte schießen will“, sagt Nato-Chef Stoltenberg. Nach Schätzungen westlicher Geheimdienste verfügt die Armee über mindestens 900 Marschflugkörper und hochpräzise strategische Raketen, mit denen gezielt Energieinfrastruktur zerstört werden kann; monatlich kommen knapp hundert Raketen hinzu.
Zum Arsenal gehören auch tausende Drohnen. Der Iran hat Putin mindestens 3000 Shahid-Drohnen geliefert, die eine wichtige Rolle bei den Luftangriffen spielen: Das relativ billige, aber effiziente Waffensystem bindet die ukrainische Luftabwehr, im gestaffelten Einsatz folgen dann Marschflugkörper. Der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj zeigt sich auch besorgt über verbesserte Lanzet-Kamikaze-Drohnen aus russischer Produktion mit erhöhter Reichweite.
2. Russland hat die Produktion von Munition hochgefahren
Beide Seiten fürchten Munitionsknappheit – doch Russland steht jetzt viel besser da. Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un liefert nach einem Treffen mit Putin Nachschub: Nach Angaben des südkoreanischen Geheimdienstes trafen innerhalb von zwei Monaten in Russland eine Million Artillerie-Granaten ein. Damit schickt Kim kurzfristig so viel, wie die Europäische Union für ein ganzes Jahr versprochen hat, aber ziemlich sicher nicht liefern kann: Im März wird abgerechnet, aktuell hat die EU nur rund 300.000 Schuss bereitgestellt.
Stoltenberg warnt, die Ukraine verbrauche die Munition viel schneller, als der Westen sie produzieren könne. Rüstungsfabriken im Westen investieren zwar in neue Produktionslinien, doch die werden frühestens in der zweiten Hälfte 2024 zu spürbar mehr Nachschub führen. Erst 2025 soll dann umfangreich geliefert werden – zu spät, falls Russland vorher eine große Offensive startet.
Artilleriemunition ist ein zentraler Faktor der Militärtaktik in diesem Krieg. Russland hatte seine Produktion bereits Ende 2022 hochgefahren, im kommenden Jahr werden nach Schätzungen des britischen Geheimdienstes bis zu zwei Millionen Schuss ausgeliefert. Zudem habe Nordkorea einen enormen Vorrat, könne Putin noch Artilleriemunition in Millionen-Stückzahlen liefern, sagt András Rácz, Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). So stärkt die russische Armee ihre Verteidigungsfähigkeit, nicht so sehr die Offensivkraft. Aber das würde schon reichen, wenn Putins Strategie aufgeht, auf das Ende westlicher Hilfe für die Ukraine zu setzen.
3. Russland hat trotz hoher Verluste viel mehr Soldaten
Die russische Armee hat „ungeheure Verluste“ erlitten, sagt Racz. Nato-Experten gehen von rund 120 000 gefallenen und 200 000 verwundeten Soldaten aus; die Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten wird auf 70.000 geschätzt. „Russland hat einen erheblichen Teil seiner konventionellen Streitkräfte verloren“, sagt Stoltenberg. Aber: Man dürfe keine Hoffnung darauf zu setzen, dass dies zum schnellen Kriegsende führe. Putin habe bei Opfern eine „hohe Toleranzschwelle“.
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Die russische Armee kann auf ein viel größeres Reservoir zurückgreifen als die Ukraine, in deren Armee jetzt zunehmend Ermüdungserscheinungen sichtbar werden. Der Kreml will die Zahl der bewaffneten Kräfte zum zweiten Mal in diesem Krieg erhöhen, diesmal um rund 170.000 Vertragssoldaten und Wehrdienstleistende auf 1,3 Millionen Mann. Gesetzesänderungen erleichtern bereits eine viel umfassendere Mobilisierung, die Voraussetzung für eine neue Offensive wären.
4. Russlands Kriegswirtschaft läuft auf Hochtouren
Russland hat seinen Verteidigungsetat für nächstes Jahr massiv auf 112 Milliarden Dollar erhöht, ins Militär gehen jetzt fast 40 Prozent der Staatsausgaben. „Russland hat den militärisch-industriellen Komplex ausgebaut, um einen Zermürbungskrieg zu gewinnen“, sagt Gustav Gressel vom Think-Tank European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin. Es könne diesen Krieg bis 2027 fortsetzen und auch eine Verlängerung vorbereiten. Europa dagegen habe abgesehen von bestimmten Munitionsarten seine Militärproduktion nicht nennenswert erhöht.
Und auch die USA beschleunigten die Produktion nicht im erforderlichen Tempo: „Wenn sich nichts zugunsten der Ukraine ändert, hat Putin sehr gute Chancen, den Krieg zu gewinnen“, warnt Gressel. Zwar hat Russland tausende Panzer verloren. Aber: Aus den unter Volldampf arbeitenden Waffenfabriken rollen im Drei-Schichtbetrieb jeden Monat 200 Kampfpanzer und mehrere hundert reparierter Panzer – auf ukrainischer Seite sind es nach Expertenschätzungen nur 60.
Neue umfangreiche Lieferungen aus dem Westen wie im vorigen Frühjahr sind für Kiew nicht in Sicht. Immerhin haben die USA für Anfang 2024 ein 100-Millionen-Dollar Paket von Artilleriegranaten, Luftverteidigung und Gleitbomben für Raketenwerfer zugesagt, ein paar Monate später dürften aus Europa erste F-16-Kampfjets eintreffen. Aber das reicht nicht. Der österreichische Militärexperte Markus Reisner sagt: „Das ist ein Abnutzungskrieg - und der wird vor allem über Ressourcen entschieden.“ Ohne ausreichende Unterstützung des Westens verliere die Ukraine den Krieg.
5. Die westlichen Sanktionen gegen Russland sind zu löchrig
Die Sanktionen des Westens schwächen Russland, aber längst nicht so wie erwartet. Westliche High-Tech-Komponenten für die Waffenproduktion kommen über den Umweg Asien doch nach Russland. Allein im ersten Halbjahr soll Moskau nach ukrainischen Geheimdienstangaben solche Komponenten aus Europa und den USA im Wert von 5,6 Milliarden Dollar importiert haben.
Auch das Ziel, russische Gas- und Ölexporte so zu drosseln, dass Putins Kriegskasse austrocknet, hat der Westen verfehlt: Der Ölpreisdeckel, mit dem der Preis für russisches Erdöl unter 60 Euro pro Barrel gedrückt werden sollte, funktioniert nicht mehr. Ergebnis: Im ersten Kriegsjahr nahm Russland umgerechnet fast 550 Milliarden Euro aus dem Export vor allem von Öl und Gas ein, dieses Jahr dürften die Erlöse bei 460 Milliarden Dollar liegen – immer noch ein Mehrfaches der jährlichen Kriegskosten.
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