Kiew. Die Angriffe weit hinein auf russisches Gebiet sorgen im Kreml für Nervosität. Moskau verteilt die Flugabwehr neu – und das hilft Kiew.
Es ist ein ungleicher Kampf zwischen Russland und der Ukraine. Experten vergleichen ihn oft mit einem Angegriffenen, der sich mit festgebundenen Händen gegen einen übermächtigen Gegner behaupten muss, weil der Munitionsnachschub ausbleibt und westliche Waffen nicht auf russischem Territorium eingesetzt werden dürfen. Und doch gibt es immer wieder Erfolge – sogar im Luftkrieg. Seit Tagen kommt es zu massiven russischen Luftangriffen, die nicht allein auf die Grenzregionen gerichtet sind, sondern das ukrainische Hinterland treffen. Doch auch die Ukraine hat in den vergangenen Tagen beachtliche Erfolge gemeldet.
Ein ukrainischer Drohnenangriff traf vor einigen Tagen eine Militärfabrik in der Stadt Tula südlich von Moskau, wo russische Flugabwehrsysteme gebaut werden. Noch besorgniserregender dürfte für den russischen Präsidenten Wladimir Putin aber der erfolgreiche Angriff auf ein Gasterminal in der Region Leningrad sein: Offenbar haben die ukrainischen Drohnen mehr als 800 Kilometer zurückgelegt – und sind dann eingeschlagen. Wenige Tage zuvor sollen ukrainische Drohnen sogar ein Öldepot in St. Petersburg selbst getroffen haben.
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Der bisher weiteste ukrainische Angriff auf russisches Kerngebiet wurde im August 2023 registriert. Damals wurde ein Ziel im mehr als 700 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernten Bezirk Pskow getroffen. Welche weitreichenden Drohnen die Ukraine in all diesen Fällen konkret einsetzte, ist unklar. „Es ist jedoch eindeutig zu beobachten, dass die Ukrainer ihr Material ständig verbessern und ihr Potenzial ständig erhöhen“, sagte der Militäranalyst Dawid Scharp aus Israel im ukrainischen Radio NV.
Russland: Drohnen gelangen mehr als 700 Kilometer ins Land
Doch zum Erfolg trägt nicht nur der technische Fortschritt bei, mit dem die Reichweite der Drohnen stetig erhöht wird. Auch Russland hat einen entscheidenden Anteil daran. Die seit August 2023 andauernden Angriffe auf die russische Militärinfrastruktur auf der okkupierten Krim sowie der neuerliche Abschuss des teuren und extrem wichtigen Frühwarnflugzeugs A-50 über dem Asowschen Meer haben die Russen offenbar dazu bewegt, mehrere Flugabwehrsysteme aus dem Hinterland abzuziehen und auf die Krim sowie in Frontnähe zu verlegen.
„Sie haben die Frontlinie und die Krim mit der Flugabwehr bestückt. Mit dem Rest des russischen Territoriums ist das nicht so“, erklärte Jurij Ihnat, Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, der Kiewer Zeitschrift „Fokus“. „Die Drohnen der ukrainischen Produktion schaffen es bis nach Moskau, St. Petersburg und treffen auch etwa Öldepots woanders. Das ist ein sehr gutes Zeichen.“ Auch Sewastopol auf der Krim, wo der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte liegt, wurde daher in den vergangenen Monaten vermehrt zum Ziel ukrainischer Drohnen- und Raketenangriffe.
Ukraine: Weniger russische Flugabwehr an der Front ist hilfreich
Nach Darstellung des Kreml hat seine bald zwei Jahre andauernde Militäroffensive in der Ukraine keine Auswirkungen auf den Alltag der Menschen in Russland. Doch dass die Drohnenangriffe zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl im März deutlich zugenommen haben, zwingt die Armeeführung zum Handeln. So sahen sich die Russen nun offenbar genötigt, ihre Flugabwehr wieder zurück – etwa in die Region Leningrad – zu bringen. Vergangene Woche tauchten im Internet durch Anwohner aufgenommene Videos auf, die zeigen, wie Russland ein Flugabwehrsystem der Klasse S-300 nahe St. Petersburg aufstellte.
Für die Regierung von Wolodymyr Selenskyj ist das durchaus ein Erfolg. Denn je weiter die ukrainischen Drohnen reichen, desto stärker gerät auch Russland in der Luft unter Druck. Und je mehr Flugabwehrsysteme Moskau im eigenen Hinterland an früher für die Ukrainer unerreichbaren Stellen stationieren muss, desto weniger Flugabwehr wird es in der Nähe der Front geben. Und die ist lang. Nach ukrainischen Angaben misst die gesamte Frontlinie zwischen der Ukraine und Russland 1300 Kilomenter, auf 600 bis 800 Kliometern wird demnach aktuell gekämpft. Entsprechend groß ist der Bedarf an Langstreckenraketen, Drohnen, Granaten und Artilleriegeschützen, wie ein Präsidentenberater zuletzt erneut betonte.
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