Berlin. Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein schlägt Alarm: Die Gefahr für Juden sei so groß wie seit dem Holocaust nicht mehr.

Jüdische Familien, die sich nicht mehr trauen, ihre Kinder in die Kita zu schicken: Felix Klein kann kaum fassen, wie sich jüdisches Leben in Deutschland seit dem 7. Oktober verändert hat. Im Interview sagt der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, welche Form des Judenhasses er am meisten fürchtet – und welche Kritik an der israelischen Militäroperation im Gazastreifen er für antisemitisch hält.

Herr Klein, wie sicher sind Juden in Deutschland?

Felix Klein: Das Massaker der Hamas am 7. Oktober war eine Zeitenwende auch für die Sicherheit der Juden in Deutschland. Das Bundeskriminalamt hat seither mehr als 4300 islamistische Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt registriert – viele davon antisemitisch. Man kann jetzt schon sagen, dass in diesem Jahr die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland so hoch sein wird wie noch nie. Die Sorge um die Sicherheit der jüdischen Communitys war lange nicht so groß wie in diesen Tagen. Wir hören von jüdischen Familien, die ihre Kinder nicht mehr in den Kindergarten schicken. Jüdische Sportvereine verlegen ihr Training. Koschere Läden werden gemieden. Menschen mit jüdischen Namen geben auf Bestell-Apps andere Namen an. Es ist wirklich sehr besorgniserregend.

Ist das die größte Bedrohung für Juden in Deutschland seit dem Holocaust?

Ja, das kann man so sagen. Seit dem Holocaust sind Juden in Deutschland nicht mehr in so großer Gefahr gewesen wie heute. 1972 hatten wir den Anschlag auf die Olympischen Spiele in München, 2019 den Anschlag von Halle. Heute haben wir es mit einer aktiven Terrororganisation zu tun, die so viele Juden wie möglich töten will – und die von Teilen der Bevölkerung offen unterstützt wird. Wir müssen befürchten, dass der Arm der Hamas bis nach Deutschland reicht.

Macht Ihnen der islamistische Antisemitismus größere Sorgen als der rechtsextremistische?

Seit dem 7. Oktober gehen die meisten antisemitischen Straftaten auf Islamisten und auf andere Teile der muslimischen Community zurück. Wenn wir uns die Gesamtbedrohung in diesem Jahr ansehen, ist der rechtsextremistische Antisemitismus unverändert präsent. In den Vorjahren wurde Judenhass zwischen 80 und 95 Prozent dem rechten Umfeld zugeordnet. Dieses Jahr – die abschließende Bewertung kommt im Mai – ergibt sich mit Sicherheit ein anderes Bild. Was mich besonders besorgt, ist eine Allianz von Antisemiten aller Couleur, einschließlich linker Kreise. Dieses Zusammenwirken zeigt sich, wenn an Universitäten und bei Demonstrationen skandiert wird: Befreit Palästina von deutscher Schuld! Hier wird letztlich die Schlussstrich-Forderung der Rechtspopulisten übernommen. Israelbezogenen Antisemitismus von verschiedener Seite hat es in dieser Dynamik noch nie gegeben. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wird in Kollektivhaftung genommen für das, was in Israel und dem Gaza-Streifen passiert.

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Raten Sie Juden, Deutschland zu verlassen?

Diese Entscheidung muss jeder für sich selber treffen. Ich finde es alarmierend, wenn Juden überlegen, Deutschland zu verlassen. Und ich verstehe, wenn es einige tun. In der Community gibt es große Unruhe. Umso mehr bin ich froh über die Botschaft des Zentralratsvorsitzenden Josef Schuster, der sagt: Trotz Antisemitismus und Hetze werden sich die Juden nicht aus Deutschland vertreiben lassen.

Versagt der deutsche Staat?

Der deutsche Staat reagiert. Der Schutz jüdischer Einrichtungen wurde massiv verstärkt. Polizei und Geheimdienste sind sensibilisiert und arbeiten professionell. Es werden Täter dingfest gemacht, bevor sie Anschläge begehen können. Nach einem Lagebild des Zentralrats der Juden äußern sich 96 Prozent der Leitungen der jüdischen Gemeinden positiv über die Zusammenarbeit mit der Polizei. Wichtig sind auch die Ansagen der politisch Verantwortlichen bis hin zum Bundeskanzler, die sich solidarisch mit jüdischem Leben in Deutschland zeigen.

Im Oktober kam es in Berlin zu einem versuchten Brandanschlag auf die Synagoge in der Brunnenstraße. Die Polizei hat den Schutz jüdischer Einrichtungen verstärkt.
Im Oktober kam es in Berlin zu einem versuchten Brandanschlag auf die Synagoge in der Brunnenstraße. Die Polizei hat den Schutz jüdischer Einrichtungen verstärkt. © imago/Rolf Zöllner | IMAGO/Rolf Zöllner

Genügt das?

Ich wünsche mir, dass der Volksverhetzungsparagraf im Strafgesetzbuch klarer gefasst wird, damit Justiz und Polizei weniger Unsicherheit bei seiner Anwendung haben. Zweitens ist mir wichtig, dass das europäische Gesetz über die digitalen Dienste endlich auch bei uns in Kraft tritt. Dann können wir den Antisemitismus, der sich im Netz äußert, besser bekämpfen. Und drittens muss die Fortbildung bei Polizei und Justiz weiter verbessert werden. Wer Antisemitismus nicht erkennt, kann ihn auch nicht ahnden. Hier haben wir schon große Fortschritte gemacht, aber es muss noch weiter gehen.

Was soll mit jenen geschehen, die für die Errichtung eines Kalifats in Deutschland demonstrieren?

Wer ein Kalifat fordert, teilt nicht die Werte unserer demokratischen Gesellschaft und hat nach meinem Verständnis kein Anrecht auf den deutschen Pass. Gerade in dieser angespannten Lage wäre es aber falsch, einen Generalverdacht gegen Muslime auszusprechen. Die Muslime in Deutschland sind zum großen Teil nicht antisemitisch eingestellt.

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Was erwarten Sie von Imamen, die in Deutschland predigen?

Die Ausbildung muss in Deutschland stattfinden. Die Entsendung von Imamen aus der Türkei muss aufhören. Ich begrüße, dass die Innenministerin hierzu eine Vereinbarung getroffen hat.

Was ist mit Imamen, die schon in Deutschland sind – und Hass predigen?

Im Zweifel muss man Hassprediger ausweisen. Falls sie als Diplomaten angemeldet sind, was auch vorkommt, müssen sie zur unerwünschten Person erklärt werden.

Wie können Schulen in dieser besonderen Situation ihrer Verantwortung gerecht werden?

Wir müssen Lehrerinnen und Lehrer systematisch und verpflichtend schulen im Umgang mit Antisemitismus. Kaum ein Bundesland macht das. Das muss unabhängig vom Unterrichtsfach geschehen. Antisemitismus und Rassismus kommt im Biologieunterricht genauso vor wie im Sportunterricht. Außerdem muss es eine bundesweite Meldepflicht für antisemitische Vorfälle in Schulen geben. Wenn Antisemitismus auftritt, muss ein Mechanismus greifen – ohne lange Diskussionen. Darüber hinaus sollten wir anders informieren über das Judentum. Es gibt viel zu viele Schülerinnen und Schüler, die sich nur mit jüdischem Sterben befasst haben, nämlich der Shoah, nicht aber mit jüdischem Leben. In den Lehrplänen muss deutlich werden, dass jüdisches Leben immer schon zu Deutschland gehört hat.

Würde ein Schulfach zum Umgang mit Rassismus und Antisemitismus helfen?

Wir brauchen ein Schulfach für Medienkompetenz, das Schülerinnen und Schüler befähigt, mit ihren Informationsquellen kritisch umzugehen. Sie müssen lernen, wie man den Wahrheitsgehalt von Nachrichten prüft und Fake News erkennt. Häufig hat die Verbreitung von Verschwörungsmythen ihren Ursprung auf TikTok. Wer sich mündig im Internet bewegt, ist weniger anfällig für Hass und Hetze – gerade auch gegen Israel und die Juden. Dieses Fach sollte verpflichtend in ganz Deutschland eingeführt werden.

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Im Netz wird der Einsatz der israelischen Armee im Gazastreifen millionenfach verurteilt. Ist das nach Ihren Begriffen antisemitisch?

Nein, das ist nicht antisemitisch. Alle haben das Recht, die Aktionen der israelischen Armee zu kritisieren. Auch ich bin der Ansicht, dass die israelische Armee im Gazastreifen verhältnismäßig vorgehen muss. Bei der Kritik sollte allerdings darauf geachtet werden, dass es keine Äquidistanz gibt. Es sind nicht zwei Kriegsparteien, die hier miteinander im bewaffneten Konflikt sind. Es kämpft ein demokratischer Staat mit einer legitimierten Regierung gegen eine Terrororganisation, die sich überhaupt nicht an das Völkerrecht hält und Menschen als Schutzschilde benutzt.

Geht das demokratische Israel im Gazastreifen verhältnismäßig vor?

Das kann ich schwer beurteilen. Die Herausforderung liegt darin, dass die Hamas-Kämpfer regelmäßig und mit voller Absicht in Zivil auftreten. Das macht eine Unterscheidung schwer und ist im Übrigen völkerrechtswidrig.

Wo ist der Punkt, an dem Kritik am israelischen Vorgehen in Antisemitismus umschlägt?

Der verbreitete Vorwurf, Israel begehe im Gazastreifen einen Genozid, ist antisemitisch. Dämonisierung ist ein klassisches antisemitisches Motiv. Wer jüdischen Soldaten bar jeglicher Grundlage die systematische Auslöschung einer ganzen Bevölkerung vorwirft, relativiert zudem den Holocaust.

Bei einer Demonstration in München halten Teilnehmer ein Schild mit dem Slogan „Stoppt den Genozid“ hoch. Laut Felix Klein ein klarer Fall von Antisemitismus.
Bei einer Demonstration in München halten Teilnehmer ein Schild mit dem Slogan „Stoppt den Genozid“ hoch. Laut Felix Klein ein klarer Fall von Antisemitismus. © ddp/mufkinnphotos | mufkinnphotos

Haben Sie Hoffnung auf Frieden im neuen Jahr?

Ich hoffe, dass die Hamas bald nicht mehr in der Lage ist, einen so grauenvollen Angriff auf die israelische Zivilbevölkerung durchführen zu können. Die Weltgemeinschaft sollte einsehen, dass die Hamas militärisch besiegt werden muss. Ein wichtiger Schritt zum Frieden wäre, dass die Hamas sich ergibt und die Geiseln ohne weitere Bedingungen freilässt.

Und danach? Wer kontrolliert den Gazastreifen?

Israel kann es sicher nicht sein. Es braucht eine internationale Aufsicht, damit die nicht-radikalen Menschen im Gazastreifen eine Selbstverwaltung einführen können.

Hat sich eine Zwei-Staaten-Lösung erledigt?

Ich glaube nicht. Ein palästinensischer Staat bleibt ein wichtiges Ziel – auch im Interesse Israels. Die israelische Besatzungsherrschaft im Westjordanland ist nur dann mit dem Völkerrecht vereinbar, wenn man anschließend zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommt.