Jerusalem. In den Kibbuzen leben Menschen, die Palästinenser als gute Nachbarn sahen. Das Massaker der Hamas hat ihre Hoffnung zerstört.

Ofir Libstein hatte eine Vision. Frieden statt Terror. Jobs statt Raketen. So hat er es noch vor einem Jahr in einem Gastbeitrag für eine US-amerikanische Zeitung formuliert. „Wir wissen, die meisten Einwohner von Gaza wollen wie wir in Frieden leben“, hat er geschrieben. In dem Beitrag hat er seinen Traum von einem gemeinsamen Gewerbegebiet skizziert, in dem Menschen aus Gaza Ausbildung und Beschäftigung finden sollten.

Am 7. Oktober ermorden Hamas-Terroristen Ofir Libstein zusammen mit seinem Sohn und seinem Neffen im Kibbuz Kfar Aza. Der Terror-Attacke sind viele Menschen zum Opfer gefallen, die sich wie Libstein für Frieden und Versöhnung eingesetzt hatten. Es ist die zusätzliche Tragödie in der Katastrophe, die über das Land hereingebrochen ist.

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Die Friedensbewegung in Israel ist seit dem 7. Oktober in einer Schockstarre. Bereits nach der Zweiten Intifada, in der Anfang der 2000er Jahre Hunderte Israelis durch Selbstmordanschläge von palästinensischen Terroristen auf Cafés, Restaurants oder Einkaufszentren ums Leben kamen, hatte sie deutlich an Zulauf verloren. Organisationen wie das 1978 gegründete „Peace Now“ setzten sich jedoch weiter vehement für eine Zweistaatenlösung und gegen den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland ein, dokumentierten Übergriffe gegen Palästinenser und kritisierten die eigene Regierung.

Von unseren Reportern in Israel

Friedensaktivist über Hamas-Terror: „Die Albträume vieler Menschen in Israel sind Realität geworden“

Nach dem Massaker der Hamas, bei dem 1400 Kinder, Frauen und Männer ermordet wurden, herrscht bei vielen, die sich für Frieden einsetzten, Ratlosigkeit. Yariv Oppenheimer (46) ist im Vorstand von „Peace Now“. Er sagt: „Die Albträume vieler Menschen in Israel sind Realität geworden. Es ist sogar noch schlimmer, als man es sich in Albträumen vorstellen konnte.“ Neben der Trauer und der Fassungslosigkeit über das Geschehene gebe es auch das Gefühl, betrogen worden zu sein. Das hat etwas mit den Orten zu tun, die die Hamas überfallen hat. Und mit den Menschen, die der Terror-Attacke zum Opfer gefallen sind.

Der ermordete Ofir Libstein sei „eine Stimme der Hoffnung“ gewesen, sagen Freunde.
Der ermordete Ofir Libstein sei „eine Stimme der Hoffnung“ gewesen, sagen Freunde. © Konrad Spremberg | Konrad Spremberg

Die Kibbuze, die am 7. Oktober von der Hamas heimgesucht wurden, sind meistens links und säkular ausgerichtet. Dort lebten viele Menschen wie der 50-jährige Ofir Libstein, der Mann, der mit seinem Sohn und seinem Neffen ermordet wurde. „Wir haben alle gedacht, die Situation der Menschen im Gazastreifen muss verbessert werden“, erzählt Tal Shamir. Er kommt aus dem Dorf Ohad nicht weit entfernt von Kfar Aza, dem Kibbuz, in dem am „schwarzen Schabbat“ mehr als einhundert Menschen starben. Shamir hat mit Libstein einen Freund und ein Vorbild verloren. „Er war ein großartiger Mann, ein Pionier mit vielen Ideen, der das Leben der Menschen in Gaza verbessern wollte.“

Angriffe auf Kibbuze: „Ich kann ihnen nicht verzeihen, dass sie so viele meiner Freunde ermordet haben“

Libstein war Vorsitzender des Regionalrats des Landkreises Scha’ar HaNegev. „Er war eine Stimme der Hoffnung“, sagt Shamir. Eine solche Stimme war auch Vivan Silver. Die kanadisch-israelische Friedensaktivistin hat im Kibbuz Be´eri gelebt, auch dort starben mehr als hundert Menschen.

„Vivian hat sich mit einer unglaublichen Energie für das friedliche Zusammenleben von Juden und Arabern eingesetzt.“ Die 74-Jährige hat unter anderem Transporte von kranken Kindern aus dem Gazastreifen in israelische Krankenhäuser organisiert. Jetzt ist sie eine der mehr als 200 Geiseln der Hamas. Niemand weiß, wo im Gazastreifen sie festgehalten wird. Mindestens fünf Menschen, die als Freiwillige Ambulanz-Dienste gemacht hätten, seien ermordet worden, sagt Shamir.

Er selbst ist zutiefst traurig und enttäuscht. „Ich kann ihnen nicht verzeihen, dass sie so viele meiner Freunde, meiner Schüler, der Klassenkameraden meiner Kinder ermordet haben“, sagt Shamir. „Ich kann ihnen aber auch nicht verzeihen, dass sie das Gefühl in mir getötet haben, dass es Frieden geben kann.“ Shamir ist Reservist. „Ich habe als Soldat gekämpft. Ich habe viele schlimme Sachen gesehen. Aber ich habe noch nie etwas so Grauenvolles gesehen wie das, was sie am 7. Oktober getan haben.“ Er selbst sei elf Stunden unter heftigem Beschuss gewesen, habe sich nur knapp mit seiner Familie retten können.

Ernüchterung in Israel: Es gibt ein Gefühl, betrogen worden zu sein

Nach dem Tag des Massakers wird Shamir eingezogen. Er ist jetzt beim Heimatschutz eingesetzt. „Ich bin für die Sicherheit der israelischen Araber verantwortlich“, erzählt er. Nach der Terror-Attacke habe er viele Anrufe von arabisch-israelischen Freunden bekommen. „Sie haben mit uns getrauert und mit uns geweint.“ Zugleich seien sie auch verängstigt. „Es ist jetzt eine harte Zeit für sie.“ Obwohl mindestens 80 Prozent der israelischen Araber auf der Seite Israels stünden, würden sie mancherorts zur Zielscheibe von Hass und Gewalt.

Amir und Naomi Adler wollten das siebzigjährige Bestehen ihres Kibbuz feiern, dann kamen die Hamas-Terroristen.
Amir und Naomi Adler wollten das siebzigjährige Bestehen ihres Kibbuz feiern, dann kamen die Hamas-Terroristen. © Funke Foto Services | André Hirtz

Das Gefühl der bitteren Enttäuschung, das Gefühl, betrogen worden zu sein, teilen auch Amir und Naomi Adler. Das Ehepaar, sie ist 41, er 47, hat mit seinen drei Söhnen derzeit im Kibbuz Mischmar haEmek Obdach gefunden. Eigentlich stammen sie aus dem Kibbuz Nahal Oz. Am 7. Oktober wollten die 450 Einwohner eigentlich das siebzigjährige Bestehen ihres Kibbuz feiern. Stattdessen wird es ein Tag des Grauens. In Nahal Oz sterben zwölf Menschen. Die Adlers verbringen achtzehn Stunden in ihrem Schutzraum. „Wir sind durch die Hölle gegangen“, sagt Naomi.

Vor drei Jahren ist der Gazastreifen ein wenig geöffnet worden. Rund 20.000 Menschen aus dem dicht bevölkerten Landstrich konnten in Israel arbeiten. Auf seiner Bananenplantage hat Amir Adler zwanzig Menschen aus Gaza beschäftigt. Er sagt, er habe ihnen 250 Schekel (rund 58 Euro) am Tag gezahlt, das Zehnfache dessen, was Menschen im Gazastreifen durchschnittlich verdienen. „Wir haben diese Leute immer unterstützt, ihnen zum Beispiel Kleidung gegeben.“ Sie seien stolz darauf gewesen, etwas für den Gazastreifen zu tun, sagt Amir.

Nach dem 7. Oktober hat er Videos gesehen, die sein Weltbild erschüttert haben. „Nach der ersten Welle der Hamas-Terroristen sind die Plünderer gekommen. Da waren ganz normale Leute bei, sogar Frauen und Kinder.“ Später fanden die israelischen Sicherheitskräfte bei getöteten und festgenommenen Hamas-Kämpfern detaillierte Karten der Kibbuze. Friedlich zusammenleben? Für die Adlers ist das nach der Terror-Attacke kaum noch vorstellbar.

„Es war ein Fehler zu glauben, man könne mit der Hamas kooperieren“

Yariv Oppenheimer von „Peace Now“ will die Hoffnung dennoch nicht aufgeben. Es sei völlig richtig, die Hamas jetzt zu zerschlagen, sagt er, auch wenn die anstehende Bodenoffensive mit vielen Risiken behaftet sei. „Es war ein Fehler, zu glauben, man könne mit der Hamas kooperieren. Sie sehen diesen Konflikt nicht als einen politischen, sondern einen religiösen.“ Die Terror-Organisation habe von den schlimmen Lebensbedingungen der Menschen im Gazastreifen profitiert. „Viele Palästinenser unterstützen die Hamas. Aber das kann sich ändern“, glaubt er.

Oppenheimer sagt auch, die repressive Politik der rechten Regierungen unter Benjamin Netanjahu trage eine Mitschuld an der Katastrophe. Wenn nach dem Krieg eine Mitte-Links-Regierung an die Macht komme und die Palästinensische Autonomiebehörde die Hamas in Gaza ablöse, dann gebe es vielleicht in der Zukunft Frieden. Ihm ist aber auch klar: „Die Menschen werden jetzt nicht für Frieden demonstrieren. Es ist keine Zeit der Hoffnung, es ist jetzt eine Zeit der Trauer und der Wut.“

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