Jerusalem. Raphael Kay zieht in den Krieg. Seine Frau weiß nicht, ob er heil zurückkommt. Unserer Reporterin verrät er: „Ich fürchte mich nicht.“
Thunfischdosen, Nüsse, Shampoo, Unterhemden: Die Spenden für die Soldaten an der Front stapeln sich auf dem langen Tisch vor der großen Synagoge in Jerusalem. Raphael Kay sammelt sie, er will helfen, solange er noch kann: Bald wird er selbst an der Front sein. „Ich habe eine Menge Freunde, die schon einrücken mussten. Sie hatten nicht einmal Zeit, um ihre Koffer zu packen“, erzählt er.
Der 24-Jährige ist einer der mehr als 360.000 Soldaten, die für den Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen mobilisiert wurden. Schon bald könnte die Offensive beginnen. Dann werden, so die Erwartung, israelische Panzer in Gaza einrollen und die Angriffe, die derzeit aus der Luft, Land und Wasser aus gestartet werden, auch durch Bodentruppen ergänzt. Das letzte Mal war das 2014 der Fall, Benjamin Netanjahu war schon Israels Ministerpräsident. Mehr als 500 israelische Soldaten kamen damals zu Tode.
Angriff auf Israel: Angst vor der Front? „Nein, ich fürchte mich nicht“
Ob er keine Angst hat, an die Front zu gehen, sein Leben aufs Spiel zu setzen? „Nein, ich fürchte mich nicht“, sagt Kay. Obwohl er erst vor sechs Wochen geheiratet habe und seine Frau zurücklasse. Es gehe aber allen Soldaten so. „Einer meiner Freunde ist bereits eingerückt, seine Frau ist gerade schwanger. Wir opfern alle, was wir eben können, weil es dieses starke Gefühl gibt, dass wir hier eine wichtige Aufgabe haben.“
Eine Woche ist vergangen, seit die Terroristen aus dem Gazastreifen den Süden Israels überfallen haben. Sie drangen in Häuser ein, folterten und massakrierten, ermordeten und verschleppten Kinder und alte Menschen, zeigten keinerlei Skrupel. Sie überfielen ein Rave-Festival in der Wüste, kidnappten junge Menschen und schossen wahllos auf jene, die zu flüchten versuchten.
Allein auf dem Schauplatz des Festivals wurden später 260 Leichen geborgen. Die Terroristen brannten Häuser ab, schändeten Leichen, hinterließen an den Schauplätzen schwarze Fahnen mit dem Logo des Islamischen Staats. Mehr als 1300 Menschen wurden insgesamt getötet, mehr als 7000 verwundet. Die Zahl der Vermissten, die mutmaßlich von der Hamas im Gazastreifen als Geiseln gehalten werden, liegt bei mindestens 120, eher sind es mehr. Sie könnten nicht länger mit der Terrororganisation in nächster Nähe leben, erklärte Israels Armeechef Daniel Hagari am Freitag. Das Ziel der israelischen Streitkräfte: „Hamas hat dieses Massaker geplant und es wird dafür bezahlen. Jetzt ist Hamas der Souverän von Gaza. Am Tag danach wird es jemand anders sein.“ Mit anderen Worten: Die Hamas in Gaza soll eliminiert werden.
Raphael Kay wird dabei helfen, er freue sich sogar darauf, sagt er. „Ich weiß, in westlichen Ohren klingt das eigenartig. Aber wir müssen unseren Feinden zeigen, dass wir nach dieser furchtbaren Attacke nicht gebrochen sind.“ Diese Feinde sind vor allem der Iran und seine Milizen, die auch unmittelbar an Israels nördlicher Grenze im Libanon stationiert sind. „Sie schauen genau zu, wie wir jetzt reagieren. Wenn wir nur die leiseste Zurückhaltung zeigen, werden sie das ausnutzen.“
Kay zitiert US-Präsident Joe Biden, der in einer Rede in Washington den Krieg im Nahen Osten kommentiert, und gesagt hatte: Die stärkste Waffe der Juden in Israel sei, dass sie kein anderes Land haben. „Ich sehe das ganz genauso“, sagt Kay. Dabei ist der 24-Jährige nicht hier aufgewachsen, sondern in den Vereinigten Staaten. Erst vor sechs Jahren kam er hierher, wurde israelischer Staatsbürger und leistete den Armeedienst ab.
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Raphael Kay über Netanjahu: „Bibi hat Recht“
Bevor er die Nachricht bekam, dass er bald eingezogen werde, wollte er die Armee auf andere Weise unterstützen. Seither steht er jeden Tag hier, vor der Großen Synagoge. Fast minütlich meldet sich am Handy jemand, der entweder helfen will oder dringend Hilfe benötigt. Es sind Soldaten, die seit drei Tagen ins selbe Unterhemd schwitzen, weil es im Süden keinen Ersatz gibt. Und Familien, die ihre Häuser wegen der Attacke verlassen und alles zurücklassen mussten. Eltern, die in Gegenden leben, die immer noch nicht frei von Terroristen sind. Sie bitten darum, dass sie jemand mit Windeln und Babynahrung versorgt, weil sie sich nicht aus dem Haus trauen. Was Raphael Kay und die rund 60 anderen Freiwilligen vor der Synagoge sammeln, wird mit geschützten Konvois in den Süden verfrachtet.
Raphael Kay hat das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein – und das gibt ihm Kraft. „Bibi (der israelische Spitzname für Benjamin Netanjahu, Anm.) hat Recht: Wir werden den Nahen Osten von Grund auf verändern.“ Viel zu lange habe Israel sich zurückgehalten, wenn es von der Hamas und anderen Terrorgruppen attackiert wurde. „Wir haben es auch auf dem friedlichen Weg probiert, haben uns vom Gazastreifen zurückgezogen – und was hat es uns gebracht?“
Israel holt Reservisten zurück ins Land
Raphael Kay bezieht sich auf den einseitigen Rückzug Israels aus Gaza im Jahr 2005. Wenig später putschte sich die Hamas im Gazastreifen an die Macht und regiert seither mit eiserner Faust. Nun will Israel der Herrschaft der radikal islamistischen Gruppe ein Ende setzen. Das Land wird dafür kritisiert, dass auch eine große Zahl an Zivilisten in Gaza bei den Luftschlägen stirbt, darunter auch viele Kinder.
„Sehr bald“ schon werde er an der Front sein, schätzt Raphael. Tatsächlich ist Israel damit beschäftigt, jene Reservisten, die wegen der gekappten Flugverbindungen noch im Ausland festsitzen, nach und nach zurück ins Land zu holen. Dabei werden auch höchst unkonventionelle Wege eingeschlagen: Die Sabbatruhe, die in Israel auch für den öffentlichen Verkehr und für die Flüge der israelischen Fluglinie EL AL gilt, wird nun gebrochen. Züge werden auch am Samstag im Einsatz sein, um Reservisten zu ihren Einsatzorten zu bringen. „Die Hamas bereitet sich auf einen langen Krieg vor“, schätzt Israels Armeesprecher Daniel Hagari am Freitag. Israel sei dafür gerüstet.
Nicht alle Reservisten der israelischen Streitkräfte sollen an der Grenze zum Gazastreifen stationiert werden. Auch im Norden bereite sich die Armee darauf vor, dass sich die pro-iranischen Milizen der Hisbollah im Libanon einschalten. Hagari: „Wir sind auf jedes Szenario eingestellt.“
Gal, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist einer der Reservisten, die nahe der Grenze zum Libanon bereit für den Einsatz sind. Sein Auftrag ist es, für den Nahkampf mit eindringenden Terroristen gerüstet zu sein und seinen Heimatort, in dem rund 60 Familien leben, vor ihnen zu verteidigen. Die nötige Ausrüstung und Munition dafür habe er schon erhalten, sagt er, seine Frau und die zwei Kinder seien längst weiter in die Landesmitte übergesiedelt, um vor Angriffen aus dem Norden geschützt zu sein. Ob er Angst habe? „Man muss ein Wahnsinniger sein, um zu sagen, man habe keine Angst“, meint Gal, „natürlich fürchte ich mich.“ Er habe aber gelernt, „die Angst zu nutzen, um aufmerksamer zu sein“.
Auch Raphael Kay, der sagt, er fürchte sich nicht, zeigt in einem kurzen Moment, dass ihm die Lage zusetzt. „Die beste Freundin meiner Frau hat ihren Mann verloren“, erzählt er. Der Mann sei von den Terroristen ermordet worden. „Gestern haben wir ihn bestattet. Das Begräbnis war sehr, sehr belastend“, sagt Raphael und fügt hinzu: „Es sind schwierige Zeiten.“
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