Berlin. Der wichtige Kachowka-Staudamm im russisch besetzten Teil von Cherson wurde beschädigt. Auch das angrenzende Kraftwerk ist zerstört.

  • Der Kachowka-Staudamm in der Region Cherson wurde zerstört
  • Kiew spricht von einer Sprengung durch Russland, Moskau macht ukrainischen Beschuss verantwortlich
  • Eine Flutwelle rollt flußabwärts – etwa 16.000 Menschen leben nach ukrainischen Angaben in der kritischen Zone

Im von Russland besetzten Teil der südukrainischen Region Cherson ist nach Angaben beider Kriegsparteien der wichtige Kachowka-Staudamm nahe der Front schwer beschädigt worden. Kiew und Moskau machten sich am Dienstagmorgen gegenseitig für den Vorfall mit potenziell gravierenden Folgen verantwortlich. Ukrainischen Informationen zufolge könnten knapp 80 Orte von den freigesetzten Wassermassen erreicht werden.

Nach Angaben beider Parteien ist das angrenzende Wasserkraftwerk zerstört. Es sei "offensichtlich", dass eine Reparatur nicht möglich sei, sagte der russische Besatzungsbürgermeister Wladimir Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. Auch der ukrainische Kraftwerksbetreiber sprach von einer kompletten Zerstörung der Anlage.

Was genau zur Beschädigung des Staudamms geführt hat, ist bisher unklar. Das ukrainische Einsatzkommando Süd teilte mit, die russischen Besatzer hätten den Damm in der Stadt Nowa Kachowka selbst gesprengt. Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden am Kachowka-Staudamm verantwortlich. "Das Wasser ist gestiegen", sagte Leontjew staatlichen russischen Nachrichtenagenturen zufolge.

Die Karte zeigt die Lage des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine.
Die Karte zeigt die Lage des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine. © dpa

Russland macht ukrainischen Beschuss für Zerstörung verantwortlich

Auf der linken Seite des Flusses Dnipro, wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt, sei mit Evakuierungen begonnen worden. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, innerhalb von fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.

Mehrere Dörfer seinen "vollständig oder teilweise" überflutet. "Etwa 16.000 Menschen befinden sich in der kritischen Zone am rechten Ufer", erklärte er in einem Onlinedienst. "Das Ausmaß der Zerstörung, die Geschwindigkeit und Menge des Wassers sowie die wahrscheinlichen Überschwemmungsgebiete werden gerade bestimmt."

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Das ukrainische Militär bezeichnet die Lage in den vom Dammbruch betroffenen Gebieten unterdessen als stabil. Natalia Humenyuk, Sprecherin der Streitkräfte im Süden der Ukraine, erklärte bei einer Pressekonferenz in Odessa, nur ein Teil des Damms sei beschädigt. Das Bauwerk sei so gebaut, das es einer Atom-Explosion standhalten könne. Humenyuk betonte, für die Sprengung seien die russischen Besatzer des Wasserkraftwerks verantwortlich. Angesichts der bevorstehenden Gegenoffensive hätten sie "vielleicht die Nerven verloren", so die Militär-Sprecherin. Die Explosion sei eine "Manifestation der Hysterie". Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Dieses vom ukrainischen Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt Wasser, das durch einen Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt.
Dieses vom ukrainischen Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt Wasser, das durch einen Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt. © Uncredited/Ukrainian Presidential Office/AP/dpa

Zerstörter Staudamm: Russische Besatzer rufen Notstand aus

Nachdem die russischen Besatzer zunächst keinen Grund für eine Evakuierung gesehen hatten, riefen sie am späten Vormittag in der Stadt Nowa Kachowka den Notstand aus. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, sagte der von Russland eingesetzte Bürgermeister Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. "Die Stadt ist überflutet." Auch das an den Staudamm angrenzende und völlig zerstörte Kraftwerk stehe unter Wasser. Auf der russisch besetzten Seite des Flusses Dnipro sind Leontjews Aussagen zufolge insgesamt 600 Häuser in drei Ortschaften von den schweren Überschwemmungen betroffen.

Für das nördlich des Staudamms gelegene Atomkraftwerk Saporischschja, das durch den Stausee mit Kühlwasser versorgt wird, besteht nach russischen Informationen aktuell keine Gefahr. Auch die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sieht kein "unmittelbares nukleares Risiko" für das AKW. "Die Experten der IAEA" seien vor Ort und "beobachten die Situation", teilte die Organisation am Dienstag im Onlinedienst Twitter mit.

Durch die Zerstörung des Staudamms könnte es zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen, die südlich von Cherson liegt. Sie wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert.

Staudamm zerstört: Selenskyj beruft Sicherheitsrat ein

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berief am Vormittag den Nationalen Sicherheitsrat ein. "Wasserkraftwerk Kachowka. Ein weiteres Kriegsverbrechen, begangen von russischen Terroristen", schrieb Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak am Dienstag im Onlinedienst Telegram.

Selenskyj selbst machte auf Telegram "russische Terroristen" für die Zerstörung verantwortlich. "Die Zerstörung des Damms des Kachowka-Wasserkraftwerks beweist der ganzen Welt, dass sie aus jeder Ecke der Ukraine vertrieben werden müssen", schrieb der Präsident.

Präsidentenberater Mychajlo Podoljak teilte auf Twitter mit, Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen. Russland müsse international als Terrorstaat eingestuft werden.

Luftaufnahme des Kachowka-Staudamms, aufgenommen am 5. Juni 2023.
Luftaufnahme des Kachowka-Staudamms, aufgenommen am 5. Juni 2023. © Satellite image ©2023 Maxar Technologies / AFP

Experte warnt vor vier bis fünf Meter hoher Flutwelle

In den sozialen Medien kursieren Videos, die die überschwemmten Gebiete zeigen sollen. Verteidigungsexperte Nico Lange schrieb auf Twitter, es sei davon auszugehen, dass das Wasser vor allem auf der russisch besetzten Seite des Dnipro für Überschwemmungen sorgen werde. Simulationen zufolge würde der Hafen von Cherson etwa in 15 bis 20 Stunden von einer vier bis fünf Meter hohen Flutwelle getroffen werden. Durch die Zerstörung des Staudammes würde außerdem die Überquerung des Flusses unmöglich werden.

Immer wieder hatte die Ukraine in den vergangenen Monaten vor einem möglichen Sabotageakt der Russen in Nowa Kachowka gewarnt. Für besondere Beunruhigung hatte gesorgt, dass die Besatzer im vergangenen November die Evakuierung der Stadt angekündigt hatten. Selenskyj hatte bereits im Oktober vergangenen Jahres davor gewarnt, dass bei einer Zerstörung des Damms 80 Ortschaften, unter anderem die Stadt Cherson, überschwemmt werden würden.

EU-Ratspräsident macht Russland für Beschädigung des Staudamms verantwortlich

EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilte die Zerstörung des Staudamms und machte Russland dafür verantwortlich. Er sei "schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm", schrieb Michel am Dienstag im Kurzbotschaftendienst Twitter. "Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt klar als Kriegsverbrechen – und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen", schrieb Michel.

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Der Ratspräsident will den Vorfall demnach Ende Juni beim nächsten EU-Gipfel in Brüssel zur Sprache bringen. Es müsse Hilfen für die überfluteten Gebiete in der ukrainischen Region Cherson im Süden des Landes geben, betonte Michel. Seine Gedanken seien bei den "Familien in der Ukraine, die von dieser Katastrophe betroffen sind".

Auch der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Zerstörung des Staudamms. Der Vorfall gefährde Tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb Stoltenberg am Dienstag auf Twitter. "Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert."

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warf Russland vor, immer stärker zivile Ziele zu attackieren. "Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind", sagte der Kanzler am Dienstag beim "Europaforum" des WDR in Berlin auf eine Frage nach möglichen Konsequenzen aus der Staudamm-Explosion. Die russischen Streitkräfte würden auch Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen und Infrastrukturen angreifen. "Deshalb ist das etwas, das eine neue Dimension hat, aber zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt."

(nfz/csr/jes/dpa/afp)