Velbert. Millionen Kinder wurden bis in die 80er-Jahre in Kinderkurheime geschickt. Was sie dort erlebten, lässt viele Velberter bis heute nicht los.

Zum Frühstück gab es Haferschleim, wer den nicht essen mochte, bekam ihn mittags und abends wieder vorgesetzt. Und wer den Brei zum Brechen fand, musste das Erbrochene wieder aufessen. Es sind schlimme Geschichten, die Velberterinnen und Velberter über ihren Aufenthalt in sogenannten Kinder-Erholungsheimen in den 50er bis 80er Jahren erzählen. Wie ihnen ging es vielen. Allein in NRW wurden zwischen 1949 und 1990 Fahrten für mehr als 2,1 Millionen Kurkinder in die oft berüchtigten Kur- oder Erholungsheime organisiert. Die Erlebnisse von damals beschäftigen viele Männer und Frauen in Velbert auch heute noch als Erwachsene, wie die vielen Posts unter einem Facebook-Eintrag der WAZ Velbert zeigen.

Das NRW-Gesundheitsministerium hat jetzt eine Studie zur Aufarbeitung des Leids der sogenannten „Verschickungskinder“ nach 1945 im Westen Deutschland veröffentlicht. Danach wurden Kurkinder von der Außenwelt abgeschnitten, hatten Kontaktverbot zu den Eltern, die Post wurde zensiert. Lieblosigkeit, emotionale Vernachlässigung vor allem kleiner Kinder, körperliche Züchtigung und vor allem der Essenszwang habe für die betroffenen Kinder „eine schwere Traumatisierung“ bedeutet, heißt es weiter.

Velberterin musste nachts auf der Treppe sitzen

Dies deckt sich mit den Erlebnissen, die uns die Velberter und Velberterinnen auf Facebook geschildert haben. So schreib Bea, die 1972 für sechs Wochen in einer Kur war: „Zum Frühstück gab es Haferschleim und wer den erbrochen hat, weil er ihn nicht mochte, musste das Erbrochene auch wieder aufessen. Ab 18 Uhr gab es nichts mehr zu trinken und wer noch geredet hat, musste die halbe Nacht auf der Treppe sitzen.“ Sie habe jede Nacht da gesessen und sei krank geworden. Die Kinder hätten nie draußen gespielt, sondern seien immer nur in Reihe und Glied spazieren gegangen. „Es war schrecklich“, schließt sie.

Mit dem Schiff sind die Kurheimkinder auf Amrum angekommen. Fröhlich schaut aber keines.
Mit dem Schiff sind die Kurheimkinder auf Amrum angekommen. Fröhlich schaut aber keines. © Unbekannt | Joachim Schmidt

Drei Wochen ohne „großes Geschäft“

Regina war 1973 auf Borkum und wäre dort fast gestorben. „Ich musste mich beim Essen übergeben, weil der ganze Darm mit Kotsteinen voll war. Als ich dann nachmittags auf einem Spaziergang zusammen gebrochen bin, hat man es endlich ernst genommen. Hatte drei Wochen kein „ grosses“ Geschäft gemacht“, berichtet sie.

Morgens nackt unter die Höhensonne

Manuela war in den 60er Jahren in einer sechswöchigen Kur am Starnbergersee wegen Untergewichts. Das Haus wurde von Nonnen geleitet. „Nachts war der Flur bewacht und man durfte nicht aufstehen, um zur Toilette zu gehen. Jeden morgen ging es nackt unter die Höhensonne. Eine absolute Horrorvision, die ich bis heute nicht vergessen habe.“

Auch für Martina war es der blanke Horror: „Wir konnten vor Durst nachts nicht einschlafen. An den Wasserhahn durften wir auch nicht. Haben die „Tanten“ verboten.“ Viele berichten, dass sie ihre eigenen Kinder nie zur Kur geschickt hätten. Allerdings gibt es auch zwei Post von Usern, die in den 80er Jahren in Kur waren und über solche Erlebnisse nicht berichten können, sondern sich im Gegenteil dort wohl gefühlt haben.

Die Postkarte zeigt die Kinderheilanstalt
Die Postkarte zeigt die Kinderheilanstalt "Waldhaus" in Bad Salzdetfurth. Es ist eines von zahlreichen Kurheimen, in die Kinder nach 1945 bis in die 1980er Jahre von ihren Eltern in guter Absicht in wochenlange Kinderkuren geschickt wurden. © picture alliance/dpa | Hauke-Christian Dittrich

Schilderungen werden als glaubwürdig bezeichnet

Die Zeitzeugenberichte über Gewalt, Schläge, Essens- und Schlafentzug, Isolierung und Demütigung werden in der oben genannten Studie grundsätzlich „als in hohem Maße glaubwürdig“ bezeichnet. Allein das Internetportal verschickungsheime.de verzeichne inzwischen fast 2000 solcher Berichte. Bereits eine kursorische Lektüre der Berichte lasse eine „häufig rigorose, nicht selten auch grausame Erziehungs- und Verwahrungspraxis während des Kuraufenthalts erkennen“.

>>>Kontinuität zum Nationalsozialismus

Die oft gewalttätige und grausame Erziehungspraxis in vielen Kinderkurheimen nach dem Zweiten Weltkrieg legt der Studie des NRW-Gesundheitsministeriums zufolge eine Kontinuität zum nationalsozialistischen Regime nahe.

Die Studie lege offen, dass die Organisation der Erholungs- und Heilkuren für Kinder in der Weimar Republik aufgebaut und in der NS-Zeit „an die Ideologie des Regimes angeglichen wurde“, teilte das NRW-Ministerium dazu mit.

„Diese Ausrichtung hat in den Folgejahren nachgewirkt, so dass mentale und personelle Kontinuitäten fortbestanden.“ Es wird geschätzt, dass bundesweit sechs bis acht Millionen Kinder zu den Kuraufenthalten verschickt wurden.