Münster. Sind wir nach den Erfahrungen mit Corona nun auch im Umgang mit Grippe vorsichtiger? Der Seuchenhistoriker Prof. Malte Thießen ist „erschrocken“.
Seit mehreren Jahren beschäftigt sich der Seuchenhistoriker Prof. Malte Thießen mit Pandemien. Die Corona-Pandemie brachte eine Zeitenwende, sagt er. Jetzt „können wir in Echtzeit beobachten, wie eine Gesellschaft lernt, mit einem neuen Virus zu leben.“ Doch von einer „Erfolgsgeschichte“ kann man in Bezug auf die Frage, ob wir aus der Corona-Pandemie gelernt haben, eher nicht reden, meint Thießen.
Herr Prof. Thießen, mögen Sie das Wort Corona-Pandemie noch hören?
Prof. Malte Thießen: Als Privatmensch geht es mir wahrscheinlich wie den meisten von uns: Nach bald drei Jahren Pandemie ist man ein wenig müde geworden, das C-Wort erschreckt nicht mehr, es gehört leider zum Alltag dazu. Als Seuchenhistoriker hingegen ist unser aktueller Umgang mit Corona für mich sehr spannend: Wir stecken seit gut einem halben Jahr in einer Gewöhnungsphase, wir können sozusagen in Echtzeit beobachten, wie eine Gesellschaft lernt, mit einem neuen Virus zu leben.
Wie steht es um die Akzeptanz von Corona in der Bevölkerung?
Thießen: Eine gewisse Gewöhnung finde ich zunächst einmal total nachvollziehbar: Niemand kann jahrelang in ständiger Angst und Alarmbereitschaft leben. Und trotzdem sollten wir uns nicht allzu entspannt zurücklehnen: Mit Corona leben bedeutet eben auch, mit vielen Toten zu leben. Nach wie vor sterben auch in Deutschland erschreckend viele Menschen an dem Virus.
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Aber auch an die Todeszahlen haben wir uns offenbar gewöhnt...
Die Rücksicht auf Risikogruppen, die in der ersten Phase der Pandemie groß war, sollten wir uns ein Stück weit erhalten – ohne Lockdowns, ohne systematische Kontaktbeschränkungen, aber doch mit einem Blick auf die kleinen Dinge, die das Leben für die Gefährdeten sicherer macht.
Corona-Pandemie verliert auch durch die neuen Krisen ihren Schrecken
Die Corona-Variante Omikron hat dem Virus den Schrecken genommen...
Thießen: Zurücklehnen ist keine gute Strategie, weil wir Lehren ziehen sollten aus Corona, um uns für die Zukunft zu rüsten: Die nächste Pandemie wird kommen, wir haben jetzt noch die Chance, kritische Bilanzen zu ziehen, unsere Pandemie-Resilienz zu verbessern, um in Zukunft dann eine Art „Pandemie-Dividende“ einzustreichen.
Welche „Pandemie-Dividende“ meinen Sie?
Thießen: Pandemien sind immer die sozialsten aller Krankheiten, weil sie alle Bereiche und Ebenen einer Gesellschaft treffen. Deshalb forderte und fordert Corona uns alle heraus: Das Verhalten der oder des Einzelnen hat Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse, auch bei uns im Nahbereich. Dieses Bewusstsein, dass wir alle füreinander verantwortlich sind, wäre eine erste gute Lehre, die wir aus Corona ziehen könnten.
Fast zwei Jahre lang beherrschte Corona die mediale Berichterstattung. Ist es jetzt einfach mal ‘gut’ mit dem Thema?
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Thießen: Corona gehört auch deshalb für viele einfach dazu, weil wir in einer neuen Krise stecken: In den Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine. Corona verliert auch seinen Schrecken, weil die Angst vor dem Krieg und der Kahlschlag im Portemonnaie sich überall bemerkbar macht.
Dann ist der Verlust der Aufmerksamkeit letztlich ganz normal?
Thießen: Als Historiker bin ich erschrocken, wie schnell sich Aufmerksamkeitsfenster schließen, wenn sich ein neues öffnet. Die Energiekrise bündelt zurzeit mit guten Gründen viele Energien, auch wenn das vielleicht eine schlechte Metapher ist. Aber wir müssen versuchen, auch für andere Risiken und Chancen die Augen offen zu halten: Im Kampf gegen den Klimawandel, gegen Rechtsextremismus und vieles andere mehr waren wir zeitweilig schon mal weiter.
Welche Erkenntnisse oder Lehren nehmen Sie aus der Corona-Pandemie mit?
Thießen: Ganz persönlich war ich erschrocken, wie aktuell die Geschichte plötzlich sein kann. Ich beschäftige mich seit mehr als zehn Jahren mit der Geschichte von Pandemien und Impfprogrammen. 2020 und 2021 hatte ich auf einmal viele Dejà-Vus.
„Corona hätte eine Erfolgsgeschichte sein können“
Was hat Sie besonders erschreckt?
Thießen: Die Ausgrenzung von „Seuchenträgern“ ist kein Phänomen eines finsteren Mittelalters, sondern sehr gegenwärtig, wenn wir auf Anfeindungen gegen Heinsberg und Gütersloh bei den Ausbrüchen 2020 blicken. Auch die soziale Ungleichheit sowohl beim Ansteckungsrisiko als auch im Kampf gegen Corona hat mich persönlich erschreckt: Wir wissen spätestens seit dem 19. Jahrhundert, dass Seuchen soziale Ungleichheit verstärken. Dass wir aber noch im 21. Jahrhundert kaum Konsequenzen daraus gezogen haben, war für mich eine erschreckende Lehre: Die Solidaritätsappelle waren manchmal ziemlich unsolidarisch, weil übersehen wurde, dass Menschen mit unterschiedlichen Berufen, Einkommen, Familiensituationen sehr unterschiedliche Möglichkeiten haben, in einer Pandemie solidarisch zu sein.
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Grippewellen waren bis dato als Selbstverständlichkeit wahrgenommen worden, hohe Todeszahlen nahm man hin. Ist das mit der Erfahrung durch die Corona-Pandemie nun anders?
Thießen: Das ist eine Entwicklung, die ich so nicht erwartet hätte: Nicht nur die Grippe gilt heute – und zwar schon lange – als Selbstverständlichkeit, auch Corona ist mittlerweile für viele normal geworden.
Ist das gut oder schlecht?
Thießen: Während der ersten zwei Jahre sah es für mich so aus, als ob wir aus unserer Auseinandersetzung mit Corona auch für die Prävention der Grippe etwas gelernt haben: Masken tragen, Händewaschen, Vermeidung großer Menschenmengen. In diesem Sinne hätte Corona eine Erfolgsgeschichte sein können: dass wir Eindämmungsmaßnahmen verinnerlichen, die auch gegen Grippe und andere Krankheiten helfen. Nach bald drei Jahren Corona scheint mir ein gegenteiliger Effekt sichtbar zu werden: Wir haben uns an beides gewöhnt, jetzt nicht nur an Grippe, sondern auch an Corona.
Aber Sie hatten ja eingangs gesagt, dass man nicht dauerhaft in Angst leben kann?
Thießen: Bedrohlich finde ich eine Entwicklung beim Impfen: Die emotionale und politische extrem aufgeladene Debatte um das Impfen hat bei einigen die Akzeptanz auch für andere, seit Jahrzehnten etablierte Impfungen gesenkt. Wenn Corona als Selbstverständlichkeit gilt und die Corona-Impfung an Zuspruch verliert, müssen wir besonders aufpassen, dass nicht andere Impfungen darunter leiden – und wir plötzlich wieder mit ganz anderen, nämlich sehr viel älteren Infektionskrankheiten zu tun bekommen.
Pandemien sind kein Ausnahme-, sondern Normalzustand
Welche Lehren sollten wir aus Corona ziehen?
Thießen: Zwei Lehren halte ich für besonders wichtig. Die erste Lehre klingt zunächst bedrückend: Pandemien sind kein Ausnahmezustand, sondern der Normalzustand. Wenn wir nur im 21. und im 20. Jahrhundert uns umblicken, sehen wir unzählige Geißeln – von der Cholera über die Spanische, die Asiatische und die Hongkong-Grippe bis hin zu Aids, Sars und Ebola – die uns immer wieder heimsuchten. Positiv gewendet könnte man sagen: Wir haben auch in früheren Zeiten Pandemien überstanden und zum Teil relativ gut in Schach halten können.
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Und welches ist die zweite Lehre?
Thießen: Die zweite Lehre klingt zunächst ebenfalls wenig erfreulich: die Pandemie sind wir. Wie wir arbeiten, konsumieren, Urlaub machen – alles das hat Auswirkungen auf die Emergenz, also auf die Wahrscheinlichkeit für Mutationen und die weltweite Verbreitung neuer Viren. Auch diese Lehre lässt sich also positiv wenden: Wir haben es selbst in der Hand, wie sehr uns Pandemien bedrohen.
Werden wir uns noch an Corona erinnern, wenn die Pandemie tatsächlich aus dem Alltag verschwunden ist?
Thießen: Corona war eine Zeitenwende auch im Alltag, wir werden uns sicher auch in Zukunft an die Corona-Pandemie erinnern, selbst wenn das Virus hoffentlich seinen Schrecken verloren hat. Wenn wir über Globalisierung reden oder über Digitalisierung, dann wird auch das Thema Corona in unserer Erinnerung mitschwingen, weil die Pandemie uns gezeigt hat, wie verstrickt alles miteinander ist. Und dann wissen wir noch viel zu wenig über den Long-Covid-Effekt, also die Nachwirkungen durch Corona.
Was aus den vergangenen fast drei Jahren sollten wir im Alltag beibehalten?
Thießen: Für die große Mehrheit war 2020 und 2021 das Maske tragen selbstverständlich. Dies war einem
erstaunlich schnellen Lernprozess zu verdanken: Mund-Nase-Masken waren Anfang 2020 für den Großteil der Deutschen etwas extrem Fremdes. Das Gesicht ist für uns die wichtigste Kontaktfläche, auf der wir soziale Beziehungen ablesen. Deshalb war – und ist – das Maskentragen so umstritten. Wenn wir diese Gewöhnung an die Maske aufrechterhalten – zumindest im Winterhalbjahr und in Gebäuden mit Menschen aus Risikogruppen –, dann wäre das zumindest ein positiver Effekt von Corona: Wir werden mit dem Maske tragen nicht die ganze Welt retten, aber doch vielleicht die oder den einen unserer Mitmenschen, denen wir ihr Erkrankungsrisiko nicht ansehen können.
„Der Mensch ist nur begrenzt lernfähig“
Wie steht es eigentlich generell um unsere Lernfähigkeit?
Thießen: Tatsächlich ist die Lernfähigkeit von Menschen begrenzt - und zwar aus guten Gründen. Wir wollen nach Krisen gern wieder in unseren Alltag und in die Normalität zurück, wir möchten unsere Vorstellungen von der Welt und unserem Leben ungern über den Haufen werfen.
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Müssten wir das denn?
Thießen: Nicht alle Menschen müssen alles lernen, aber wir könnten die Lehren der Pandemie für unsere Gesellschaft bereit halten: Mit einer intensiven Aufarbeitung der Corona-Geschichte, unserer Geschichte der Gegenwart, mit einer offenen Debatte über Voraussetzungen, Formen und Folgen der Corona-Bekämpfung und über die Konsequenzen, die wir daraus ziehen können.
Welche Konsequenzen haben Sie vor Augen?
Thießen: Lernen aus der Corona-Pandemie könnte beispielsweise bedeuten, dass wir die Strukturen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes verbessern, dass wir das Fax der Gesundheitsämter gegen moderne Infrastrukturen tauschen und dass Menschen im Gesundheitswesen bessere Arbeitsbedingungen erhalten. Lernen bedeutet beispielsweise auch, dass wir im Bildungswesen die Chancengerechtigkeit erhöhen, ja überhaupt, dass wir soziale Ungleichheit - die in der Coronapandemie besonders deutlich sichtbar geworden ist und jetzt in der Energiekrise nachwirkt - als Problem für uns alle erkennen und angehen.
Unterscheidet sich die Corona-Pandemie eigentlich von anderen Pandemien in der Geschichte?
Thießen: Kaum bis gar nicht: Corona ist vielmehr relativ typisch. Die Verbreitung über Handelsrouten und Arbeitswege und nicht zuletzt durch Touristen ist im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert üblich. Corona ist nur ein wenig schneller als Seuchen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, weil das Flugzeug mittlerweile ein selbstverständliches Massenverkehrsmittel ist - darin ist Corona dann allerdings wieder typisch im Vergleich zur Hongkong-Grippe, zur Schweinegrippe etc. Corona ist auch von der Letalität her keine Ausnahmeerscheinung, im Gegenteil: Andere Viren wie die Pocken, die bis in die 1960er Jahren ihr Unwesen auch in Deutschland treiben, sind fataler mit Blick auf Todeszahlen.
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Aber Unterschiede gab es doch?
Thießen: Die mediale Aufmerksamkeit und das Risikoempfinden sind tatsächlich die beiden bedeutendsten Unterschiede - aber genau deshalb eine wichtige Erklärung, warum wir Corona mit bis dahin nie gesehenen Eindämmungsmaßnahmen bekämpft haben: Zum ersten Mal scheuten viele Gesellschaften nicht einmal massive wirtschaftliche Einschnitte, um eine Pandemie einzudämmen. In diesem Ausmaß war das seit 2020 etwas total Neues. Neu ist auch die extrem schnelle Reaktion der Wissenschaft: Gegen Seuchen rückten schon im 19. Jahrhundert Staaten enger zusammen, aber 2020/21 konnten wir einen globalen Wissenstransfer beobachten, der bislang ohne Beispiel geblieben ist. Das Tempo bei der Entwicklung von Tests und Impfstoffen spricht dafür Bände.
>> Impf-Geschichte als Forschungsthema
Prof. Malte Thießen, geboren 1974, ist Historiker und leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. Zu seinem Forschungsbereich zählt auch die Geschichte der Gesundheit, Gesundheitsvorsorge und des Impfens. In seinem Buch „Auf Abstand“ hat er sich mit der Coronapandemie beschäftigt (Campus Verlag, 2020). Er arbeitet derzeit an einer Neuauflage, in der er einige Kapitel ergänzen will. Dabei soll es auch um die Frage gehen, was aus Corona zu lernen wäre.