Essen. Corona ist für viele kaum noch ein Thema. Der Essener Virologe Prof. Ulf Dittmer rät, sich im Winter weiter zu schützen. Wegen anderer Viren.

Die Erkältungszeit hat begonnen und es zeichnet sich eine stärkere Grippe-Welle ab. Und da wäre noch das Corona-Virus, das für viele aber inzwischen kaum ein Thema mehr ist. Viele lassen Schutzmaßnahmen inzwischen fallen, wie wir sie in der Pandemie gelernt haben. Der Virologe Prof. Ulf Dittmer, Chef-Virologe am Uniklinikum Essen, warnt davor, gänzlich zu alten Verhaltensweisen zurückzukehren. Er sagt zum Beispiel: „Hände schütteln im Winter war auch vor Corona schon falsch.“

Ist die Corona-Pandemie vorbei?

Prof. Ulf Dittmer: Nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation WHO ist die Pandemie fachlich noch nicht vorbei. Wir haben nach wie vor weltweit Infektionsfälle, die immer noch in Wellen auftreten. Aber sie ist ein deutlich geringeres medizinisches Problem geworden.

Was halten Sie von Warnungen, ein neues ‚Supervirus‘ sei in diesem Winter möglich?

Es gibt Argumente, weshalb ich das nicht teile. Wir haben inzwischen in der Bevölkerung eine sehr breite Immunität. Über 95 Prozent der Menschen haben Antikörper im Blut, sei es durch Impfung oder Infektion. Und mehrere Millionen Menschen – Schätzungen reichen von 20 bis 30 Millionen - sind gar beides, geimpft und genesen. Sie sind vor schwerer Erkrankung besonders gut geschützt. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass die Entwicklung des Virus wieder rückwärts geht. Die Evolution verläuft nicht rückwärts.

Dann müssten wir doch die Pandemie als ‚erledigt‘ abhaken können?

Das Corona-Virus hat uns in der Medizin etwas Neues beigebracht: Vor Corona hätten wir bei 95 Prozent Antikörper in der Bevölkerung von Herdenimmunität gesprochen und wären davon ausgegangen, dass keine Gefahr mehr besteht. Doch bei Corona verbreitet sich das Virus trotzdem weiter. Wir haben zwar Herdenimmunität, aber nur gegen schwere Erkrankung, nicht gegen die Infektion. Und die kann eben bei manchen Menschen etwa mit Vorerkrankung, nach wie vor schwerwiegende Folgen haben. Zum Glück ist das selten geworden.

Virologe: Mund-Nase-Masken schützen nicht nur vor Corona-Viren

Dann sollten wir also uns und andere weiterhin vor Ansteckung schützen?

Eigentlich wäre die Entwicklung ein Argument dafür, dass wir Schutzmaßnahmen wie etwa Mund-Nase-Maske zu tragen, in den meisten Fällen nicht mehr brauchen. Doch ich bin da vorsichtig!

Warum?

Wir haben gerade an unserer Klinik wieder extrem hohe Krankheitsausfälle beim Pflegepersonal, weil viele andere Viren kursieren: RSV, Erkältungsviren und Influenza. Wir sollten also weiterhin bestimmte Schutzmaßnahmen, die wir durch Corona kennen gelernt haben, nutzen: zum Beispiel in bestimmten Bereichen in Gebäuden, wo viele Menschen verkehren, Mund-Nase-Maske tragen – vor allem im Winter.

Die sieht man in der Öffentlichkeit kaum mehr – ein Fehler?

Ich persönlich werde weiterhin im Winter Maske tragen, das macht sehr viel Sinn! Masken schützen ja nicht nur gegen die Übertragung von Coronaviren, sondern gegen alle respiratorischen Erreger, die also über Luft und Aeorosole weiter getragen werden.

Wir haben viel durch die Pandemie gelernt - aber nicht überall

Sollte in Bus und Bahn weiter Maskenpflicht gelten?

Wir diskutieren hier vom falschen Ende! Wenn ich in Bus und Bahn auf dem Platz sitze, könnte ich auch die Maske ablegen. Der Weg dahin aber ist das Problem, wo wir mitunter hunderten anderen Menschen begegnen, etwa in einem großen Bahnhof. Bei der Debatte zum Ende des Maskenzwangs in Flugzeugen ist es genau so: Problematisch ist der Flughafen, nicht das Flugzeug. In asiatischen Ländern ist es im Winter für viele normal, etwa in Bus und Bahn oder in Gebäuden Maske zu tragen. Ich habe das Gefühl, dass es bei uns gerade in Vergessenheit gerät, wie nützlich Masken sind – oder wir brauchen noch weitere schwere Infektionsereignisse, damit es auch bei uns im Winter zur Gewohnheit wird.

Sehen Sie uns gegen künftige Pandemien gerüstet?

Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie man in sehr großer Geschwindigkeit gegen ein gefährliches Virus erfolgreich kämpft. Von der Forschung und Entwicklung im Labor bis hin zur Zulassung von Arzneimitteln und Impfstoffen bei den Behörden. Das dürfen wir nicht mehr vergessen. Zudem haben wir gelernt, was gut hilft und was nicht eine Pandemie einzugrenzen. Wir haben etwa gelernt, dass Maske-Tragen jedem Lockdown vorzuziehen ist und wissen nun, dass Lockdowns schwerste Nebenwirkungen haben, etwa bei Schülerinnen und Schülern. Sie könnten allerdings auch in Zukunft nötig sein, jedoch nur bei einem extrem tödlichen Virus und als letztes Mittel zum Schutz.

„Wer krank zur Arbeit geht, ist einfach rücksichtslos“

Gibt es Bereiche, in denen wir aus Ihrer Sicht nichts gelernt haben?

Ein negatives Beispiel sind Schulen und Kindergärten. Auch in zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie ist es bisher nicht gelungen, dort ein einheitliches Hygiene-Management einzurichten. Da war jede Schule und jede Kita auf sich gestellt. Sinnvoll aber wäre eine Strategie für alle, was im Fall des Falles zu tun ist: Wann und wo wird Maske getragen, wie sollte gelüftet werden, welche Laufwege sind einzurichten, dass man beim Weg durch die Schule möglichst wenigen begegnet und so weiter. Schon bei der nächsten stärkeren Grippewelle kann das nützlich sein – und die beginnt ja gerade.

Mehrere Bundesländer heben die Isolationspflicht für positiv auf Corona getestete auf. Die richtige Entscheidung?

Uns allen sollte klar sein, mit einem Infekt gehört man nicht unter Leute! Mit einem schweren Infekt geht man nicht zur Arbeit oder trifft andere, die man dadurch anstecken könnte. Das muss keine Frage von Pflicht, sondern allgemeiner Konsens sein. Da brauchen wir ein Umdenken. Wer krank zur Arbeit geht, galt vor Corona als ‚Held‘. Wir sollten gelernt haben, dass es einfach rücksichtslos ist.

Zum Schluss: Wir haben das Gespräch am Telefon geführt. Hätten wir uns persönlich getroffen, würden Sie zum Abschied Hände schütteln?

Viele möchten wieder zu ihren alten Verhaltensweisen zurückkehren. Ich beobachte immer häufiger, dass da auch das Händeschütteln zu gehört. Viele Leute sind dann irritiert, wenn ich diesen Handschlag verweigere. Doch der war schon vor Corona im Winter falsch. Die Corona-Faust hat ein viel geringeres Ansteckungsrisiko.