Essen. Das Feuerwerk an Unwahrheiten und dummem Gezeter um „Winnetou“ zeigt einmal mehr, dass wir im Netz nur noch zu Debattenfolklore imstande sind.
Langsam verzieht sich der Pulverrauch im „Fall“ Winnetou -- aber welches Fazit soll man nun nach dem Feuerwerk an Unwahrheiten und Gezeter im Netz ziehen? Es war wie immer, leider. Gestern „Layla“, heute „Winnetou“ und morgen? Findet sich was.
Kein „Winnetou“-Gipfel im Kanzleramt
Das Wichtigste vorweg: Den „Winnetou-Gipfel“ im Kanzleramt, den SPD-Politiker Heinz Buschkowsky am Tiefpunkt einer trostlosen Scheindebatte um ein neues Jugendbuch in der „Bild“-Zeitung offenbar wirklich gefordert hat, den wird es nicht geben. Deutschland dürfte es verkraften. Wer in den letzten Tagen Zeuge wurde, mit welcher Wucht sich Politiker als Anwälte eines vermeintlich bedrohten Kulturguts gerierten, der kommt nicht auf die Idee, Buschkowsky habe womöglich nur herumgealbert, um endlich wieder einmal wahrgenommen zu werden.
Markus Söder poltert rum, Sigmar Gabriel rührt die Herzen
Nein, CSU-Chef Markus Söder polterte uninformiert herum, „dass die ARD keinesfalls Winnetou verbannen dürfe“. Sein Parteifreund Andreas Scheuer outete sich als Prepper, der nun alles Winnetou-Material „hamstern“ wolle, (nach Klopapier und Hefe mal eine neue Variante). „Ich lass’ mir Winnetou nicht wegnehmen“, postete FDP-Mann Thomas Kemmerich, an den man sich nur noch erinnert, weil er mit Hilfe der AfD mal für ein paar Tage Ministerpräsident in Thüringen war, im trotzigen Ton eines Grundschülers. Mit einem Foto, auf dem er ein altes Buch anstarrt. Und der frühere Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) rührte die Herzen mit goldigen Kindheitserinnerungen an Winnetou und Old Shatterhand.
Die Aufzählung ist unvollständig.
Kritik und Verbot werden nicht mehr auseinandergehalten
Zu diesem Zeitpunkt freilich war der Diskussionszug längst entgleist, und die ebenso zerstörerische wie intellektuell frustrierende Debattendynamik der sogenannten Sozialen Netzwerke überrollte einen möglichen Diskurs. Ging es nicht zunächst nur um ein Jugendbuch als Begleitung zu einem neuen Film namens „Der junge Häuptling Winnetou“, also ein Merchandise-Produkt ohne größeren literarischen Wert?
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Der Ravensburger Verlag zog es zurück, was nicht täglich passiert, im Verlagsalltag aber keineswegs einer Sensation gleichkommt: Vielleicht war es einfach nur verantwortungsvoll. Die etwas hilflos formulierte Begründung allerdings löste den Empörungssturm im Netz aus – völlig erwartbar. Sie legte, wenn man es so lesen wollte, den Verdacht nahe, Ravensburger habe nicht nur auf Kritik reagiert, sondern sei womöglich vor geballtem Protest eingeknickt.
Es geht nicht um Karl May im Allgemeinen
Darüber zu sprechen, ob ein Jugendbuch heute noch in der Tonalität und moralischen Verfasstheit des vorvergangenen Jahrhunderts geschrieben werden sollte, müsste indes eine Selbstverständlichkeit sein. Das kritische Abklopfen eines Textes ist Pflicht, Charles Dickens schrieb einst gar „Oliver Twist“ um, als ein jüdischer Kritiker ihn auf die antisemitischen Stellen hingewiesen hatte.
Versuche, sogar der Karl-May Gesellschaft, das Thema einzugrenzen, und darauf zu verweisen, dass es hier nicht um Karl May im Allgemeinen und auch um nicht die Verfilmungen der 60er-Jahre gehe, gingen im allgemeinen Lärm unter. Dass Kritik und Verbot offensichtlich nicht mehr auseinandergehalten werden, gehört zu den trübselig stimmenden Einsichten, die man bei verbalen Auseinandersetzungen dieser Art schon lange gewonnen hat. Dass jedes Kinkerlitzchen zum Puzzleteil einer fiktiven Verfolgungs-Erzählung aufgebauscht wird, erstickt jeden Vermittlungsversuch. Der Verteidigungsfuror aus Angst vor Veränderungen am allgemeinen Kanon entfaltet mit Macht seine Kräfte. Und sei es beim Kampf um das Schnitzel in der Kantine.
Ist die Lektüre von Karl May ein neuer Straftatbestand?
Die ausgeguckte Gegenseite, der man mit ihrer sogenannten „Cancel Culture“ Verbotswahn vorwirft, hat daran freilich ihren Anteil, wie Beispiele belegen: Einem Weißen mit Dreadlocks wegen „kultureller Aneignung“ ein Konzert zu versagen, klingt nicht viel klüger, wenn nicht gar rassistisch.
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Aber hier ging es zu keinem Zeitpunkt um Verbotsforderungen. Wer freilich der „Winnetou“-Hysterie im Netz mit tausenden Kommentaren in der vergangenen Woche folgte, musste den Eindruck gewinnen, dass die Lektüre von Karl May ein neuer Straftatbestand sei. Angeheizt durch eine trickreiche, aber perfide „Bild“-Schlagzeile, wonach die ARD keine „Winnetou“-Filme mehr zeige, brannten bei passionierten Überschriftenlesern endgültig die Sicherungen durch.
Die ARD zeigt in der Tat keine Winnetou-Filme mehr, weil sie die Rechte für die Filme schon seit zwei Jahren nicht mehr besitzt. Zur aktuellen Auseinandersetzung gibt es keinen Bezug. Das ZDF strahlt die eher bieder gestrickten Streifen im übrigen weiter aus, über die Resonanz im Publikum ist nichts bekannt. Kritik am Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen geht zumindest hier an der Sache vorbei.
Landtagspolitiker dröhnt bei Facebook herum
Doch auch das schert viele nicht. „Wenn der Öffentlich Rechtliche Rundfunk den Scheiß mitmacht, dann sollte man wirklich überlegen, ob er noch staatliche Zuschüsse braucht“, dröhnte der Düsseldorfer Landtagspolitiker Olaf Lehne (CDU) stellvertretend und ahnungslos oder wider besseren Wissens bei Facebook und kassierte bei einer dankbaren Leserschaft schnell 48 Zustimmungen. Dass gerade Politiker es in ihrer Verantwortung vermeiden müssen, Unfug zu verbreiten, der noch dazu spaltende Stimmungen befeuert, hat sich noch immer nicht zu jedem herumgesprochen.
Wut-Orgien über das Ende der Kultur
Krawall steigert das Interesse im Netz: „Focus online“ und andere Portale verbreiteten zumindest über ihre Schlagzeilen den Eindruck weiter, dass die ARD-Entscheidung mit dem aktuellen Streitfall zusammenhänge. Zahllose Male geteilt, multiplizierten sich entsprechende Reaktionen, die natürlich niemals einzufangen sind. Der Tenor der teils hysterischen Kommentare spiegelt im Kern das, was man aus diesen fruchtlosen Wut-Orgien kennt: Ende der Kultur, Untergang der bürgerlichen Welt.
Nächster Film am 3. Oktober
Am 3. Oktober zeigt das ZDF um 11.30 Uhr übrigens „Winnetou und das Halbblut Apanatschi“ mit Uschi Glas in ihrer ersten Filmrolle. „Gefühlsbetont wie die Vorlage, aber werkwidrig brutal“, urteilte der „Filmdienst“ 1966. Beim plötzlich aufgeflammten Interesse an Karl-May-Verfilmungen der 60er-Jahre dürften 30 Millionen Zuschauer den Fernseher einschalten. Mindestens.
Und natürlich Sigmar Gabriel, wenn ich mich nicht irre.