Berlin. Die Laufzeit des 9-Euro-Tickets ist zur Hälfte rum. Nun wird darüber diskutiert, wie es anschließend weitergeht. Eine Zwischenbilanz.
Auch wenn das Abschlusszeugnis noch nicht vergeben werden kann, eine Sache steht fest: Das 9-Euro-Ticket ist ein Kassenschlager. 30 Millionen Menschen nutzen es.
Und fast jeder kennt es auch: Die Schnäppchenaktion kommt auf einen Bekanntheitsgrad von 98 Prozent. Das hat eine Marktforschung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) ermittelt. Zudem äußerten sich 88 Prozent der Befragten zufrieden mit der bisherigen Erfahrung, jeder fünfte ist sogar "vollkommen zufrieden". Beliebt ist das 9-Euro-Ticket also auch. Der VDV lässt jede Woche rund 6.000 Verbraucherinnen und Verbraucher zum 9-Euro-Ticket befragen.
Für Verkehrsminister Volker Wissing ist jetzt schon klar: Der Billigfahrschein ist ein „Riesenerfolg“ und die "beste Idee für den Bahnverkehr seit ganz langer Zeit". Man habe regelrecht einen "Modernisierungsschub" bei der Bahn ausgelöst. Geht es nach dem FDP-Politiker, soll der 31. August nicht das Ende eines vergünstigten Angebots im Nahverkehr bedeuten. An dem Tag läuft das 9-Euro-Ticket aus.
Zum Jahresende oder Anfang 2023 stellt Wissing eine Nachfolgelösung in Aussicht, verschiedene Anschlussmodelle will er jetzt durchrechnen lassen. Dazu gehören das 365-Euro-Jahresticket oder ein 69-Euro-Monatsfahrschein, der vom VDV vorgeschlagen wurde. Der Geschäftsführer des Branchenverbands, Oliver Wolff, sagt: Das 9-Euro-Ticket habe "eine Situation geschaffen, hinter der wir nicht mehr zurückgehen können."
Seit dem 1. Juni ist der Fahrschein gültig, sechs Wochen kann man ihn noch nutzen. Dann ist Schluss. Zeit für ein Zwischenfazit – und fünf Erkenntnisse, die sich zur Halbzeit aus dem Verkehrsexperiment ziehen lassen.
1. Die Menschen wollen den Nahverkehr nutzen
Laut VDV hatten sich bis Ende Juni 48 Prozent der Erwachsenen in Deutschland entweder ein 9-Euro-Ticket gekauft oder sie besaßen bereits ein Abo. Noch eindrucksvoller lesen sich Zahlen zur Mobilität vom Statistischen Bundesamt, das Mobilfunkdaten ausgewertet hat. Demnach war das Reiseaufkommen auf der Schiene bundesweit im Juni um 42 Prozent höher als noch im Juni 2019, dem letzten Vergleichsjahr vor Beginn der Pandemie.
Deutlich mehr Bahnreisende gab es auf Strecken zwischen 30 und 300 Kilometern. Das zeigt, dass mit dem 9-Euro-Ticket nicht nur Busse und Bahnen des örtlichen Verkehrsbunds genutzt werden, sondern auch viele Regionalzüge.
Corona hat die Branche hart getroffen, die Fahrgastzahlen brachen zwischenzeitlich ein. Eine Rückkehr zum Vor-Pandemie-Niveau bleibe außer Reichweite, hieß es noch vor Kurzem. Mit dem 9-Euro-Ticket sind auch die Zweifler erst mal stiller geworden. Viele Menschen sind durchaus bereit, wieder vermehrt mit Bus und Bahn unterwegs zu sein.
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2. Der Preis macht den Reiz
Für den Kauf eines 9-Euro-Tickets gibt es mehrere Gründe. Doch eine große Mehrheit der Nutzenden findet den Preis am attraktivsten. Für 70 Prozent der vom VDV Befragten war es das Top-Argument, sich den Fahrschein zuzulegen. Mehr als ein Drittel gaben an, auf das Auto verzichten zu wollen (39 Prozent), flexible Nutzung am Wohnort (38 Prozent) sowie die deutschlandweite Gültigkeit.
Darüber hinaus hat der VDV untersucht, welche Gründe gegen den Kauf des 9‐Euro‐Tickets sprechen. 37 Prozent gaben fehlende Nutzungsanlässe an, 35 Prozent beklagten umständliche Verbindungen und bei ebenso vielen überwiegt die Vorliebe für das Auto.
"Die Marktforschung zeigt einerseits auf, dass es die Branche geschafft hat, Ticket und Mobilitätsangebote in kürzester Frist im Rahmen der Möglichkeiten auf den Weg zu bringen", sagt VDV-Chef Wolff und warnt zugleich: "Doch die Freude darüber darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bund und Länder zusammen mit der Branche in Kürze drängende Fragen beantworten müssen, auch mit Blick auf den Klimaschutz und die Abhängigkeit von Energie‐Importen."
3. Von der Straße auf die Schiene
Gut jede vierte Fahrt hätte ohne das 9‐Euro‐Ticket gar nicht stattgefunden, schreibt der VDV. Sechs Prozent der Nutzenden seien vor Einführung der Rabattaktion mit einem anderen Verkehrsmittel unterwegs gewesen, drei Prozent seien vom Auto umgestiegen. Die erhöhte Nachfrage ist laut dem Verband "mit Blick auf den Klimaschutz und die Belastungen des Systems kritisch zu hinterfragen." Auch interessant: 9-Euro-Ticket: Diese Ideen gibt es für die Fortführung
Ein positiveres Bild zeichnet das Statistische Bundesamts. Demnach sank die Zahl der kürzeren Autofahrten im Juni moderat – vor allem bei Strecken über 100 Kilometern. Am stärksten war der Effekt am Wochenende. An Sonntagen waren sechs Prozent weniger Menschen mit dem Auto unterwegs als im Juni 2019; im Mai waren es noch elf Prozent mehr als im gleichen Monat vor drei Jahren.
Die Experten schließen daraus, dass das 9-Euro-Ticket besonders für Ausflüge genutzt wurde. Wahrscheinlich wirke sich der Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel noch stärker aus, weil sich der Straßenverkehr nicht nach Auto- und Busfahrten trennen lasse.
Aus dem Rückgang an Wochentagen schlussfolgert das Statistische Bundesamt, dass Pendlerinnen und Pendler vom Straßen- zum Schienenverkehr gewechselt sind. Damit wäre zumindest die Absicht der Bundesregierung, Pendelnde mit dem 9-Euro-Ticket zu entlasten, erfüllt.
Und nebenbei: Je weniger Autos unterwegs sind, desto größer die Rolle des 9-Euro-Ticket beim Klimaschutz.
4. Einheitliche Verbundstruktur kommt gut an
Wissing sagt, dass er im öffentlichen Nahverkehr den „Tarifdschungel“ beseitigen will. Ein längst überfälliger Schritt. In Deutschland existieren hunderte Verkehrsverbünde mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Geltungsbereichen. Fahrgäste müssen mitunter verschiedene Karten kaufen, um von Punkt A nach B zu kommen.
Abgesehen vom Preis, schätzen Nutzende insbesondere die Kundenfreundlichkeit und Flexibilität des 9-Euro-Tickets. Deshalb muss es künftig ein dauerhaftes, bundesländerübergreifendes Nahverkehrsangebot geben. Kaum vorstellbar, wie die Politik Menschen für die Bahn begeistern will, wenn der alte Tarifwirrwarr wieder herrscht. Lesen Sie auch: Linken-Chef Schirdewan: „Wir brauchen ein 1-Euro-Ticket“
5. "Klimaticket" – schont Umwelt und Portemonnaie
Noch ist die Datenlage zur Auswirkung des 9-Euro-Tickets auf das Klima wenig belastbar. Greenpeace geht in einem kürzlich veröffentlichten Papier davon aus, dass 1,9 bis 5 Prozent der Autofahrten ersetzt werden – "konservativ gerechnet". Ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket oder ein Klimaticket könnte den CO2-Ausstoß in Deutschland jährlich um zwei bis sechs Millionen Tonnen reduzieren, indem weniger Menschen das Auto nutzen. Bis 2030 addiert sich das CO2-Einsparpotenzial auf 15 bis 39 Millionen Tonnen. Das wäre deutlich mehr "als alle vom Bundesverkehrsministerium im Klimaschutz-Sofortprogramm vorgeschlagenen Maßnahmen zusammen."
Obendrein wird nicht nur das Klima, sondern werden auch die Nutzerinnen und Nutzer entlastet. Nach Greenpeace-Berechnungen ist das 9-Euro-Ticket oder ein sogenanntes Klimaticket für einen Euro am Tag die günstigste Variante mobil zu sein. Demnach könnten Haushalte mit den Tickets zwischen 224 und 474 Euro sparen – pro Monat.
Dieser Text erschien zuerst auf www.waz.de
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