Münster. Bis zu 6.000 Missbrauchsopfer soll es im Bistum Münster gegeben haben. Eine Studie offenbart das ganze Ausmaß des Leids und der Vertuschungen.

Ein Mann Ende 60 geht langsam die Treppe des Schlosses in Münster herunter, in der Hand ein weißes Buch so dick wie ein Backstein. Er blättert nachdenklich darin. „Das ist ein Meilenstein“, sagt er am Fuß der Treppe. Es sei ein erster Schritt, damit die Wahrheit ans Licht komme. Ein Priester hat sich an dem Mann, deren seinen Namen nicht nennen will, vergangen als er 14 war. Er ist einer von 610 Menschen, denen Geistliche im Bistum Münster sexuelle Gewalt angetan haben, als sie minderjährig waren. Ihr Leiden ist jetzt auf fast 600 Seiten in einer Studie dokumentiert, die am Montag im Münsteraner Schloss vorgestellt wurde.

610 Betroffene, die bis heute unter Angstzuständen, Depressionen und Suizidgedanken leiden. 196 beschuldigte Kleriker, darunter 183 Priester, zwölf Ordensbrüder und ein Diakon, einige von ihnen Serientäter. Deutlich mehr, als zuvor bekannt. Für nur 15 von ihnen hatten ihre Taten strafrechtliche Konsequenzen. Ein System, das Täter schützte und weitere Taten ermöglichte. „Die Kirche ist eine Täterorganisation“, sagt der Historiker Thomas Großbölting, der mit einem Team von insgesamt fünf Wissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität seit Ende 2019 an der Studie gearbeitet hat.

Für die Studie mit dem Titel: „Macht und sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche“, die vom Bistum Münster initiiert wurde, haben die Forscher Archive durchforstet. Das Bistum habe „vollumfänglich und konstruktiv“ mitgewirkt, betont Großbölting. Sie haben außerdem Interviews mit 60 Betroffenen geführt. Was sie enthüllt haben, passt in das Muster der bisher veröffentlichten Studie aus Aachen, Köln und München: Personalverantwortliche im Bistum haben seit 1945 die Untaten von Geistlichen unter den Teppich gekehrt. Selbst Männer, die wegen sexueller Übergriffe verurteilt worden waren, wurden weiter als Priester eingesetzt.

Sexuelle Gewalt wurde zu „gottesfürchtigen Taten“ umgedeutet

Besonders in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren sei es darum gegangen, die Kirche „um jeden Preis zu schützen“, sagt einer der Forscher. Die Arbeit der Priester sei als wichtiger eingestuft worden, als die Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen. Die Priester nutzten die Bindung ihrer Opfer an die Kirche und ihre „klerikale Pastoralmacht des ‚heiligen Mannes‘“ aus. Sexuelle Gewalt wurde zu „gottesfürchtigen Taten“ umgedeutet. Großbölting spricht von einer „Monstrosität der Zusammenhänge“.

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Ein Priester kann sich unter Josef Höffner, der zwischen 1962 und 1969 Bischof in Münster war, der Strafverfolgung entziehen, indem er nach Südamerika flüchtet. Höffner nutzt das Zweite Vatikanische Konzil, um Kontakte für seinen Mitbruder zu knüpfen. Caritas International hilft bei der Unterbringung des Täters in Argentinien und Paraguay. Der Serientäter Horst P. wird nach 1967 immer wieder versetzt, obwohl er wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden war und seine pädophilen Neigungen bekannt waren. Einer der Verantwortlichen: der spätere Münsteraner Bischof Reinhard Lettmann.

Auch der wegen seines Widerstands gegen die NS-Diktatur legendäre Clemens August Graf von Galen schützt mindestens einen Täter. Als besonders „zynisch“, bezeichnet es Großbölting, dass in einem Fall die Inhaftierung eines Sex-Täters in der Nazi-Zeit danach als Strafe für Widerständigkeit umgedeutet wird. Unter dem Münsteraner Bischof Michael Keller, der auf Gahlen folgt, wird ein Prozess gegen einen Täter aus dem Münsterland nach Kleve verlegt, um den Prozess aus dem Blick der Öffentlichkeit zu nehmen. Immer wieder führen die Autoren der Studie von Bischöfen, Weihbischöfen und Generalvikaren auf, die eine Strafverfolgung vereiteln.

Bistum Münster: Kritik an Priestern sei lange Zeit tabuisiert worden

Großbölting sagt, die Kirchenfürsten hätten nach dem Motto gehandelt: „Ich finde es nicht gut, was du tust, aber im Zweifel haue ich dich raus, mein Mitbruder.“ Es sind jedoch nicht die Personalverantwortlichen, die Missbrauch vertuschen und befördern. In das System eingebunden sind auch Therapeuten in kirchlichen Einrichtungen, zu denen die Täter geschickt werden, und die ihnen günstige Prognosen ausstellen. An der kirchlichen Basis sei Kritik an Priestern zudem lange Zeit tabuisiert gewesen.

Sie hätten mit der Studie nur ein kleines Hellfeld ausleuchten können, sagen die Autoren der Studie. „Das Dunkelfeld ist vermutlich zehnmal so groß“, so die Soziologin Natalie Powroznik. Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene wurde erst gar nicht untersucht. „Das Problem ist größer, als wir es dargestellt haben.“

Die ersten Exemplare der Studie werden an diesem Montag Betroffenen übergeben. Ohne ihren Mut, sich der Vergangenheit zu stellen, wäre die Aufarbeitung der Verbrechen nicht möglich. Sara Wiese sagt in die zahlreichen Kameras hinein: „Ich danke Ihnen, Verbrechen, Vertuscher und Täter beim Namen zu nennen und auch die systemischen Strukturen in den Blick zu nehmen.“ Das Leid der Betroffenen sei von der Kirche „bewusst in Kauf genommen worden“. Die Studie sei eine Grundlage für die weitere Aufklärung und Aufarbeitung geschaffen.

Bischof Felix Glenn verspricht den Opfern Aufarbeitung

Danach erhält der amtierende Münsteraner Bischof und frühere Bischof von Essen, Felix Genn, ein Exemplar. Er gibt sich demütig. Er werde nicht versuchen, eine Solidarität mit den Betroffenen zu konstruieren, dazu habe er kein Recht. „Ich bin Teil der Organisation, in der Missbrauch möglich war und aus der die Täter kommen.“ Er verspricht Aufarbeitung und die Übernahme von Verantwortung. Die Studie wolle er nun so schnell wie möglich lesen.

Der Mann, der nach der Vorstellung der Studie am Fuß der Treppe des Schlosses steht, sagt, was der Bischof geäußert habe, sei „in Ordnung gewesen“. Was die Aufarbeitung angehe, sei er aufgrund bisheriger Erfahrungen „ein bisschen skeptisch“. Er glaube aber auch, „dass es eine gewisse Lernfähigkeit bei der Kirche gibt.“ Seinem Peiniger, der ihm in den sechziger Jahren im Münsterland sexuelle Gewalt angetan hatte, begegnet er noch heute. Er selbst ist in therapeutischer Behandlung.

>>> Bistum Münster: Forscher gehen von bis zu 6000 Opfern aus

Laut der über zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit eines fünfköpfigen Teams gab es von 1945 bis 2020 fast 200 Kleriker und bekannte 610 minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch. Damit sind 4,17 Prozent der Priester betroffen. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscher gehen von 5000 bis 6000 Opfern aus.