Cherson/Berlin. Viele Bewohner der ukrainischen Großstadt nehmen die russische Besatzung nicht hin und hoffen auf Befreiung. Doch das ist gefährlich.
Als Erstes holten sie damals Lenin vom Sockel. Die Menschen in Cherson stürzten seine Denkmäler nach der Maidan-Revolution 2013/14, als sich die Ukraine auf den Weg in den Westen machte. Jetzt ist der Gründer der Sowjetunion wieder da. Nach der Einnahme der südukrainischen Großstadt brachten die Russen die Lenin-Statuen zurück – als Symbol ihrer Macht.
Überall in Cherson wehen russische Fahnen, russische Soldaten haben Checkpoints eingerichtet, durchsuchen Autos. Der Rubel wurde als Zahlungsmittel eingeführt. Die Russen sind gekommen, um zu bleiben. Aber die Bürger von Cherson wehren sich.
Militärisch war der russische Einmarsch einfach. Die erste Gebietshauptstadt, die Russlands Truppen eroberten, fiel Anfang März praktisch kampflos – das lag auch daran, dass lokale Spitzenbeamte und einige Militärs die Seiten wechselten. Anders als die meisten Einwohner. „Haut ab, geht nach Hause!“, riefen sie den Russen entgegen: „Schämt euch. Das ist die Ukraine.“ Auch zweieinhalb Monate nach der Besetzung geben sie nicht auf.
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Ukraine: Die Rubelscheine werden aus Protest gleich zurückgetauscht
Es ist nicht leicht, an Informationen aus Cherson zu kommen. Über die Stadt haben die Besatzungsbehörden praktisch eine Nachrichtenblockade verhängt. Der Internetzugang ist immer wieder unterbrochen. Zwischen ukrainisch kontrolliertem Gebiet und russisch annektiertem Territorium gibt es selten telefonische Verbindungen.
Anatoli (Name aus Sicherheitsgründen geändert) ist an diesem Tag über Whatsapp zu erreichen. Er ist 40 Jahre alt, in Cherson geboren und lebt auch dort. Bevor die Russen kamen, war er Geschäftsmann, jetzt ist er arbeitslos. Er erzählt, dass die Apotheken leer sind. Hilfslieferungen aus der Ukraine lassen die Besatzer nicht mehr in die Stadt. Es gebe jedoch ausreichend Lebensmittel, „russische, also nicht besonders gut“. Bezahlt werden sie meist mit ukrainischen Hrywnja, weil die Menschen in der Stadt die Rubel, die sie bekommen, aus Protest gleich wieder umtauschen.
Anatoli sagt, er lösche unser Gespräch sofort. Jeden Tag, bevor er auf die Straße gehe, entferne er alle Daten auf seinem Handy. Yuri Sobolevsky, proukrainischer Vizechef der Oblast-Verwaltung, berichtet, dass russische Truppen an „der Säuberung der Region von Menschen“ arbeiteten, die „eine Gefahr für das Okkupationsregime darstellen“. Nach Angaben der ukrainischen Ombudsfrau Lyudmyla Denisova befinden sich etwa 500 Personen in Cherson in Gefängnissen des russischen Militärs. Journalisten, Aktivisten, Privatpersonen wurden zu Befragungen verschleppt. Einige tauchten wieder auf, andere nicht.
Ukraine-Krieg: Russische Soldaten suchen nach „Polizisten, Militärs, Patrioten“
Das bestätigt auch Anatoli. Die russischen Soldaten seien überall. Bei den ständigen Kontrollen suchten die Russen nach „Veteranen, Polizisten, Militärs, Patrioten“, erzählt er. Und Patrioten gibt es viele. „Gestern haben die Russen in einem Stadtbus die Fahrgäste kontrolliert und dabei einen Mann mit einem Tattoo entdeckt. Sie fragten ihn, was das bedeutet“, berichtet der 40-Jährige. Der Mann sagte: „Segne und rette.“ Die Russen erwiderten: „Wir haben dich gerettet.“ Antwort: „Mein Volk wird mich retten.“ Sie fragten: „Wer sind deine Leute?“ Er antwortete: „Ukrainische Armee.“ Dann nahmen sie ihn mit.
Cherson liegt am Mündungsdelta des Dnipro, Russland kann mit der Kontrolle über die Region nun die Wasserversorgung auf der Krim sicherstellen. Zudem ist es von Cherson aus nicht mehr weit bis nach Odessa. Die Eroberung des Südens und des Ostens der Ukraine ist erklärtes Kriegsziel Russlands.
Seit ein paar Tagen gibt es einen Plan, wie Cherson ins russische Staatsgebiet eingegliedert werden soll. Die von Moskau eingesetzten Statthalter kündigten an, sie wollten die Aufnahme der ukrainischen Region in die Russische Föderation beantragen – eine Annexion der Gebiete also. Von einem Referendum war keine Rede mehr. Offenbar ist die Organisation zu aufwendig.
Cherson werde „Tag für Tag mehr zur Hölle für die Besatzer“
Nachts verschwinden immer wieder russische Fahnen von den Masten. Viele Lehrerinnen und Lehrer weigern sich nach wie vor, auf Russisch zu unterrichten, obwohl die ukrainischen Schulbücher kassiert wurden, berichten Geflüchtete.
Cherson werde „Tag für Tag mehr zur Hölle für die Besatzer“, sagt ein Bewohner der Region. Es gibt Berichte über eine aktive Guerilla auf dem Land wie in der Stadt. Angeblich blockierten russische Truppen in den vergangenen Tagen Verbindungen umliegender Dörfer nach Cherson, um Bewegungen zwischen den Orten zu unterbinden. Auch Patrouillen sowie Kontrollpunkte seien verstärkt worden, erzählt der Bewohner, der mit unserer Redaktion in Kontakt steht.
Das lange Warten auf die ukrainische Armee
Laut dem ukrainischen Verteidigungsminister Oleksij Resnikow verstärken die russischen Truppen derzeit ihre Positionen in den besetzten Gebieten rund um Cherson, um, wie er sagt, „bei Bedarf in den Defensivmodus“ zu wechseln. „Es sind wirklich, wirklich viele“, sagt eine Augenzeugin im Gespräch mit unserer Redaktion.
Anatoli glaubt an die Kraft des Widerstandes, auch wenn er oft verzweifelt ist. Alle in Cherson warten auf die ukrainische Armee und das Ende der Besatzung. Und Präsident Wolodymyr Selenskyj verspricht: „Wir versuchen es so schnell wie möglich.“ Anatoli sagt: „Die Menschen zählen die Tage, bis es endlich so weit ist. Wir glauben daran.“ Und dann schickt er diesen Nachsatz: „Aber es gibt auch Leute, die meinen, dass sie uns im Stich lassen werden.“ Danach löscht er die Verbindung mit uns von seinem Handy.
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