Berlin. Ukrainische Lehrkräfte bieten seit Kriegsbeginn Online-Unterricht an. Doch Priorität haben soll die deutsche Schule, sagt die KMK.
Elena Luschkina hat die Liste auf dem Handy, immer aktuell und schnell zur Hand: Von den Jugendlichen aus ihrer Klasse sind sieben noch in Kiew. Zehn sind über die Ukraine verstreut, sechs haben mit ihren Familien das Land verlassen. Nicht alle von ihnen haben Zugang zum Internet, einige geben aus Sicherheitsgründen nur grob ihren aktuellen Aufenthaltsort an. Doch Luschkina ist mit allen in Kontakt. Und diejenigen, die irgendwo einen Laptop und eine Internetverbindung haben, die unterrichtet sie weiter, täglich, digital. Denn Elena Luschkina ist Lehrerin, weil sie Kinder liebt, wie sie sagt. Sie ist Lehrerin auch im Krieg, auch von Deutschland aus.
An einem Tag Ende März sitzt die die 29-Jährige in einem modern eingerichteten Büro in Berlin, doch in Gedanken ist sie rund 1.400 Kilometer entfernt, in Kiew. Die schmale Frau in den schweren Stiefeln nimmt Raum ein. Wenn sie spricht, unterstreichen ihre Hände mit schnellen, großen Gesten, was sie sagt, also wolle sie das, was sie erzählt, als Bild in die Luft malen. Nur wenn das Gespräch auf den Krieg kommt, wird sie plötzlich kleiner. Dann liegen die Hände still in ihrem Schoß.
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Ukraine-Krieg: „Ich sah, wie der Himmel sich schwarz färbte“
Ursprünglich stammt Luschkina aus der Region Donezk im Osten der Ukraine. 2015 ging sie wegen der Kämpfe dort nach Kiew, baute sich ein neues Leben auf. Bis auch Kiew nicht mehr sicher war.
Am 24. Februar, am Tag von Russlands Überfall auf die Ukraine, wurde sie in ihrer Wohnung im 24. Stock vom Lärm der Kampfflugzeuge geweckt. „Ich sah, wie der Himmel sich schwarz färbte und hörte Explosionen“, erinnert sie sich. Zwölf Tage verbrachte sie in einem Luftschutzkeller in einer Art Parkhaus. Dann brach sie auf, erst nach Lwiw im Westen des Landes, von dort aus weiter nach Polen und Deutschland.
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In Berlin kaufte sie sich von ihren Ersparnissen einen Laptop, fand ein Büro im Prenzlauer Berg, in dem Geflüchtete aus der Ukraine umsonst einen Arbeitsplatz bekommen, und machte sich an die Arbeit. Sechs bis sieben Unterrichtseinheiten bietet sie am Tag an, in Geschichte der Ukraine, Weltgeschichte und Sozialkunde. Neben der 10. Klasse, die sie als Klassenlehrerin leitet, unterrichtet sie auch eine elfte und eine siebte Klasse.
Klausuren und Hausaufgaben gibt es im Moment nicht, die Dokumente, in denen die Noten aus der Zeit davor festgehalten wurden, sind noch in Kiew. Und sowieso ist der Druck hoch genug, sagt Luschkina. Die Situation belastet ihre Schülerinnen und Schüler, die in Kiew vor allem, aber auch die, die gegangen sind, um irgendwo anders Sicherheit zu suchen. „Sie haben Angst“, sagt sie, auch um ihre Klassenkameraden und Lehrerin. „Sie fragen immer wieder, wie es mir geht.“
Unterricht ist eine Normalität für die Jugendlichen und die Lehrerin
Beim Online-Unterricht geht es deshalb auch nicht nur um Daten, Fakten und den Stoff aus dem Lehrplan. Sondern auch darum, zu wissen, dass die anderen noch da sind und ein Stückchen Normalität aufrecht zu erhalten, in einer Situation, in der gar nichts normal ist. Nicht nur den Kindern tue das gut, sagt Luschkina. Auch ihr hilft es.
Sie ist nicht die einzige ukrainische Lehrerin, die online weiter lehrt. Schon während der Pandemie gab es Zeiten, in denen der Unterricht in der Ukraine in Distanz stattfand. Mit dem Beginn des Krieges wechselten viele Schulen erneut in diesen Modus.
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Auf ihrem Laptop zeigt Elena Luschkina die Präsentationen für ihren Unterricht. Sie sind detailliert und aufwendig aufbereitet, jedes Set von Folien sieht anders aus. Die für die Siebtklässler, die in Weltgeschichte gerade lernen, wie sich der Islam ausgebreitet hat, sind bunt, zwischen den Landkarten versteckt sich eine Cartoon-Figur. In Geschichte der Ukraine lernen die Älteren gerade, wie das Land in den 1990er freiwillig seine Atomwaffen aufgab – wahrscheinlich ein Fehler, sagt sie nachdenklich. Und für eine Einheit über den Zweiten Weltkrieg hat sie Fotos herausgesucht, Originaldokumente aus der Zeit. Die Panzer und zerbombten Gebäude sind schwarz-weiß. Sonst unterscheidet sie nicht viel von den Bildern aus den Nachrichten.
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Die Parallelen zwischen dem, was sie unterrichtet, und dem, was ihr Land aktuell erleben muss, machen ihr Sorgen. „Hitler hat Polen überfallen, genauso passiert es jetzt mit der Ukraine“, sagt sie. „Wenn wir nichts daraus lernen, dann wiederholt sich die Geschichte von Neuem.“
So wie sie weiter ukrainischen Unterricht gibt, nehmen auch viele der Kinder und Jugendlichen, die sich nach Deutschland gerettet haben, von hier aus weiter an den Stunden ihrer Lehrerinnen und Lehrer aus der Heimat teil.
Bis zu 400.000 ukrainische Kinder und Jugendliche könnten an Schulen kommen
Doch sie sind nicht mehr in der Ukraine, sie sind in Deutschland – und müssen eigentlich auch hier zur Schule gehen. Rund 60.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler sind schon jetzt an deutschen Schulen angemeldet, bis zu 400.000 könnten es nach Einschätzung der Kultusministerkonferenz werden.
Möglichst schnell, so rät es ein wissenschaftliches Beratungsgremium der KMK, sollen die neu angekommenen Kinder in den deutschen Schulalltag integriert werden, „mit dem Ziel, den Erwerb der Bildungssprache Deutsch und die baldige Integration in den Fachunterricht zu ermöglichen“. Einige Länder haben sogenannte Willkommensklassen eingerichtet, wie es sie schon 2015 und 2016 gab, andere setzen auf Eingliederung in den Regelunterricht.
„Der Online-Unterricht der ukrainischen Seite, das heißt nach ukrainischen Vorgaben, ist grundsätzlich als flankierende Maßnahme möglich“, sagt KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU). Aber das „verbindende Ziel“ aller Bemühungen zur Beschulung der Kinder und Jugendlichen von deutscher Seite sei das Deutschlernen. Übersetzt: Priorität der Schulbesuch in Deutschland.
Die ukrainische Generalkonsulin will, dass nach ukrainischem Lehrplan unterrichtet wird
Auf ukrainischer Seite sieht man das durchaus anders. Mitte März, als schon zehntausende Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland angekommen waren, sprach die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka vor der KMK – und bat die deutsche Bildungspolitik, ihre ukrainischen Kollegen lieber mal machen zu lassen.
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Die ukrainischen Kinder, die sich hier „zwischenzeitlich“ aufhalten, sollten ihre Beschulung nach dem ukrainischen Lehrplan fortsetzen, forderte sie. „Das allein wird ihnen eine barrierefreie und schmerzfreie Rückkehr in die Ukraine ermöglichen.“ Das sei auch eine Frage der nationalen Identität, sagte Tybinka. Hätten ukrainische Kinder in Deutschland keinen Zugang zu ukrainischer Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte, werde das „Putin in die Hände spielen, der davon träumt, die Ukraine als Staat und Nation auszulöschen“.
Elena Luschkina sieht das ähnlich. „Vielleicht ist es gerade jetzt wichtig, dass ukrainische Kinder ukrainische Geschichte und Kultur lernen“, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, unser Land wiederzubeleben“, nach dem Krieg. Auch sie will dann so schnell wie möglich nach Hause. Bis es soweit ist, will sie weiter unterrichten, von Berlin nach Kiew und anderswo. (mit aju)