Warschau. Viele Exil-Russen zeigen mit weiß-blau-weiße Flagge ihren Protest. Nun taucht das Anti-Putin-Symbol auch in russischen Städten auf.
Zaghaft noch, fast unmerklich und durchaus ängstlich angesichts der Gewaltbereitschaft des Kreml formiert sich in diesen Tagen ein anderes Russland. Eine eigene Flagge hat es schon. Hinter ihr vereinen sich all jene, die nicht einverstanden sind mit „Blutvergießen, Kriegskult und imperialer Gier“.
So formulierte es kurz nach Beginn der Invasion in der Ukraine ein russischer Twitter-Nutzer. Aus dem Exil in Paris heraus schlug er vor, ein Symbol für das „demokratische Russland der Zukunft“ zu schaffen. In sozialen Netzwerken fand die Idee schnell Resonanz. Man einigte sich auf eine quergestreifte weiß-blau-weiße Flagge. Auf diese Weise sollte das Rot im unteren Streifen der russischen Trikolore verschwinden, die „mit Blut befleckt“ sei. Zumal das Rot auch an die Sowjetdiktatur erinnere.
Aus dem Weiß-Blau-Rot der aktuellen Staatsflagge soll also Weiß-Himmelblau-Weiß werden. Die Farbkombination stehe für „Freiheit, Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit“, erklärten die Netzaktivisten. In der russischen Exil-Opposition trat die Twitter-Initiative einen rasanten Siegeszug an.
Ob Berlin, Paris oder Prag: Antikriegsproteste in weiß-blau-weiße
Mittlerweile ist die neue Flagge fester Bestandteil bei Antikriegsprotesten - sei es in Berlin, Paris oder in den starken russischen Gemeinden in Georgien und Zypern. Am Wochenende gingen in der tschechischen Hauptstadt Prag Tausende Menschen „gegen Putin“ auf die Straße und schwenkten weiß-blau-weiße Fahnen.
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Aber auch in Russland selbst tauchen die neuen Farben gelegentlich auf. So demonstrierten in der Ural-Metropole Jekaterinburg schon Anfang März Putin-Gegner im Zeichen der weiß-blau-weißen Flagge gegen den Krieg in der Ukraine. Die Polizei reagierte allerdings mit brutaler Härte. Wie fast überall in Russland. Deshalb raten die weiß-blau-weißen Dissidenten ihren Landsleuten auch von offenen Protesten unter Verwendung der neuen Flagge ab.
Es gehe nicht um einen schnellen Sturz des Putin-Regimes, heißt es auf der frisch eingerichteten Internetseite „whitebluewhite.info“. Schließlich stünden die Farben für Frieden und Freiheit. Wer aber in Russland an Protesten teilnehme, der riskiere nicht nur seine Freiheit, sondern auch Gesundheit und Leben.
„Lasst es lieber bleiben“, lautet daher die kurzfristige Botschaft. Das Projekt Weiß-Blau-Weiß ist demnach langfristig angelegt. Ziel sei die Schaffung eines „Herrlichen Russlands der Zukunft“. Hat sich hier also eine Gemeinschaft der Träumer zusammengefunden?
Viele Exilrussen warten auf Veränderung – und wollen dann sofort durchstarten
Kaum. Der Plan ist es vielmehr, sofort durchzustarten, sobald es eine realistische Chance auf Veränderung in Russland gibt. Nicht von ungefähr verweisen die Exil-Oppositionellen auf das Beispiel Belarus. Dort versammelten sich im Sommer 2020 bei Massenprotesten gegen Machthaber Alexander Lukaschenko Zehntausende im Zeichen der alten weiß-rot-weißen Flagge, die aus der Zwischenkriegszeit stammt.
Und es gibt weitere Vorbilder, nicht zuletzt in Russland selbst. Denn die heutige Trikolore war in der Spätphase der Perestroika das zentrale Symbol des Protests gegen die kommunistischen Diktatur. Am Ende war es Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Teilrepublik, der 1991 im Zeichen der weiß-blau-roten Trikolore den Untergang der Sowjetunion besiegelte.
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Dem halten die Exil-Oppositionellen mit ihrer weiß-blau-weißen Flagge eine völlig andere historische Tradition entgegen. Denn die Farbkombination findet sich auch im Wappen der nordrussischen Stadt Weliki Nowgorod.
Im Mittelalter betrieben die Kaufleute dort einen regen Handel mit der Hanse in Nord- und Westeuropa. Während Moskau unter der Mongolenherrschaft litt, bildete sich in Nowgorod eine Stadtrepublik heraus, samt Volksversammlung (Wetsche). Wer immer behauptet, in Russland gebe es keine demokratische Tradition, wird beim Blick nach Nowgorod eines Besseren belehrt.