Berlin. Oppositionschefin Tichanowskaja bezeichnet Lukaschenko als “Verbrecher“. Sie fordert nun härteste Sanktionen gegen ihr eigenes Land.

Sie ist das Gesicht der belarussischen Protestbewegung: Swetlana Tichanowskaja führt die Opposition aus dem Exil an. Der Zeitpunkt ihres Deutschlandbesuchs hätte nicht passender sein können. Während die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus eskaliert und Flüchtlinge versuchen, die EU-Grenze nach Polen zu durchbrechen, trifft die Anführerin der belarussischen Opposition in Berlin deutsche Spitzenpolitiker, darunter Olaf Scholz (SPD), Annalena Baerbock (Grüne) und Christian Lindner (FDP). Ihre Botschaft ist klar und hart.

Im Interview spricht sie auch darüber, wie es ihr im litauischen Exil ergeht und wie schwer es ist, Kontakt zu ihrem Mann, dem Oppositionellen Sergei Tichanowski, zu halten, der seit anderthalb Jahren im Gefängnis sitzt. Am Donnerstag spricht sie auch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Sie fordert von der künftigen deutschen Regierung eine Verschärfung der Sanktionen gegen ihr Heimatland und warnt die EU davor, mit dem belarussischen Machthaber Lukaschenko zu verhandeln.

Frau Tichanowskaja, Sie leben mit Ihren beiden Kindern bereits seit über einem Jahr im Exil, in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Fühlen Sie sich dort sicher?

Swetlana Tichanowskaja: Nein, ich fühle mich nicht sicher. Ich sorge mich auch um die Sicherheit meiner Kinder, die hier zur Schule und in den Kindergarten gehen. Aber ich muss in erster Linie an die Menschen denken, die noch in Belarus sind und sich dort viel größeren Gefahren aussetzen als ich. Wir leben in einer Zeit, in der wir Belarussen damit rechnen können, plötzlich eingesperrt zu werden oder gar zu verschwinden - und zwar zu jeder Zeit, ganz egal, wo wir uns befinden.

Haben Sie Sicherheitspersonal?

Tichanowskaja: Ja. Die Regierung von Litauen ermöglicht mir das, da ich als „Gast“ des Staates Litauen anerkannt wurde. Ich werde täglich von Sicherheitskräften begleitet und darf auch nur mit einem bestimmten Auto unterwegs sein. Was das angeht, habe ich mehr Schutz als viele meiner Team-Kollegen, was ein großes Privileg ist.

Sie sind das Gesicht der belarussischen Opposition und haben in Vilnius eine Art Schattenkabinett gegründet. Wie können wir uns Ihre Arbeit vorstellen?

Tichanowskaja: Mein Team und ich stehen in Kontakt mit Belarussen, die Hilfe benötigen, deren Familienmitglieder politische Gefangene sind oder die das Land verlassen wollen. Zudem treffen wir Politiker aus aller Welt und erklären, was in unserem Land passiert, werben für ihre Unterstützung im Kampf gegen das diktatorische Regime von Lukaschenko. Wir sprechen mit internationalen Organisationen und versuchen, Hilfsprogramme für belarussische Opfer auf den Weg zu bringen.

Es ist ein ständiger Kampf. Denn ich bin nicht nur Anführerin einer demokratischen Bewegung, ich bin auch Mutter von zwei kleinen Kindern und versuche, diese beiden Welten irgendwie unter einen Hut zu bringen.

Das Interview mit Swetlana Tichanowskaja führten die Redakteurinnen Alina Juravel und Diana Zinkler per Videocall.
Das Interview mit Swetlana Tichanowskaja führten die Redakteurinnen Alina Juravel und Diana Zinkler per Videocall. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Wie kommen Ihre Kinder mit dieser Situation zurecht?

Tichanowskaja: Meine Kinder sind sechs und elf Jahre alt. Der Große versteht mittlerweile, was in Belarus vor sich geht. Auch wenn er nicht nach Details fragt, weiß er, dass sein Vater zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Für meine kleine Tochter ist es schwerer. Sie fragt mich jeden Tag, wann der Papa zurückkommt. Sie denkt, er kann nicht ausreisen, weil die Grenzen wegen des Coronavirus geschlossen sind. Jeden Abend reden wir über ihn, schauen uns Bilder und Videos von ihm an.

Ihr Ehemann Sergei Tichanowski, der ursprünglich bei der Präsidentenwahl gegen Machthaber Alexander Lukaschenko antreten wollte, sitzt bereits seit anderthalb Jahren im Gefängnis. Haben Sie Kontakt zu ihm?

Tichanowskaja: Unser Kontakt läuft nur über den Anwalt und ist sehr oberflächlich. Alles, was ich erfahren kann, ist, wie es ihm gesundheitlich geht. Alle Briefe, die ich an ihn, aber auch an die anderen politischen Gefangenen, geschrieben habe, sind nie angekommen. Das Einzige, was er erhält, sind die Briefe unserer Kinder und die Bilder, die sie ihm malen. Ihm wird derzeit hinter verschlossenen Türen ein Prozess gemacht und ich gehe davon aus, dass er eine 15- bis 20-jährige Haftstrafe bekommt.

Als Ihr Mann verhaftet wurde, haben Sie an seiner Stelle kandidiert. Sie haben aber von Anfang an gesagt, dass Sie nicht Präsidentin werden wollen. Hat sich daran etwas in den vergangenen Monaten geändert?

Tichanowskaja: Ich möchte weiterhin nicht Präsidentin werden. Es gibt viele hervorragende Leute in Belarus, die für das Präsidentenamt geeigneter wären als ich. Ich wurde in diese ganze politische Situation gegen meinen Willen reingezogen, habe aber die Verantwortung übernommen. Ich führe solange die Opposition an, bis wir faire und freie Wahlen in Belarus erhalten. Ich bin aber überzeugt, dass man seinem Land auch nützen kann, ohne Präsidentin zu sein.

Swetlana Tichanowskaja hält auf einer Protestveranstaltung bei den 71. Internationalen Filmfestspielen Berlin ein Porträt ihres Mannes mit der Aufschrift
Swetlana Tichanowskaja hält auf einer Protestveranstaltung bei den 71. Internationalen Filmfestspielen Berlin ein Porträt ihres Mannes mit der Aufschrift "Sergey Tikhanovsky". © picture alliance/dpa/Pool AP | Michael Sohn

Besonders akut ist derzeit die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze. Tausende Flüchtlinge versuchen, über diesen Weg nach Europa zu kommen. Die Situation droht zu eskalieren.

Tichanowskaja: Lukaschenko versucht, der EU massiv zu schaden und sich so für die Brüsseler Sanktionen gegen Belarus zu rächen. Die Flüchtlinge sind ein Spielball für Lukaschenko. Er nutzt sie, um die europäischen Staaten zu Verhandlungen zu zwingen und seine Regierung anzuerkennen. Er möchte damit auch, die Beziehungen zwischen den westlichen und östlichen EU-Ländern destabilisieren. Und nicht zu vergessen - Lukaschenko lenkt dadurch von der innenpolitischen Situation in Belarus ab.

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Was kann die EU tun, um zu deeskalieren? Der Winter kommt und es droht eine humanitäre Katastrophe.

Tichanowskaja: Die Situation an der Grenze ist nur eines der Symptome, die das Regime von Lukaschenko hervorruft. Es muss klar sein, dass die Ursache dieser Migrantenkrise Lukaschenko ist. Die EU muss Lukaschenko zum Aufhören zwingen – nicht durch Verhandlungen, sondern durch Druck.

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Was heißt das konkret?

Die wirtschaftlichen Sanktionen müssen verschärft werden, und zwar so hart wie möglich. Alle Kooperationen, Verhandlungen oder Kontakte zum Regime von Lukaschenko müssen endgültig eingestellt werden.

Auch alle wirtschaftlichen Beziehungen zu Belarus müssen abgebrochen und Produkte aus dem Land dürfen nicht mehr gekauft werden. Sonst unterstützt man Unternehmen, die dem Staat gehören und deren Erlöse in die Geldbeutel der korrupten Regierung fließen. Sanktionen und wirtschaftlicher Druck sind die einzige Sprache, die Lukaschenko versteht.

Ein diplomatischer Dialog bringt Ihrer Meinung nach nichts?

Tichanowskaja: Es kann keinen Dialog mit einem Verbrecher wie Lukaschenko geben. Wir sehen jetzt, dass er nicht nur die Bevölkerung in Belarus terrorisiert, sondern auch die Sicherheit der EU und damit die gesamte Weltgemeinschaft gefährdet. Selbst wenn es zu einem Dialog kommt, um die Lage an den Grenzen zu entschärfen, wird es nur eine Symptombekämpfung sein. Es wird nicht lange dauern, da wird Lukaschenko zu neuen Mitteln greifen und die EU wieder erpressen.

Was soll mit den Menschen passieren, die an den Grenzen ausharren?

Tichanowskaja: Es ist richtig, Frauen, Kinder und kranke Menschen aufzunehmen, ihnen zu helfen. Es ist aber auch legitim, dass die EU-Staaten ihre Grenzen schützen wollen.

Polen hat Stacheldraht gezogen und will eine fünf Meter hohe Mauer an der Grenze zu Belarus bauen. Ist das richtig?

Tichanowskaja: Das ist ein bedauerlicher, aber verständlicher Schritt. Polen muss seine Bürger vor illegalem Eindringen in ihr Land schützen. Das, was an den Grenzen passiert, ist eine Verletzung internationaler Gesetze. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass unter dem Deckmantel der Migration sonst wer nach Europa einreisen könnte.

Erst ein Machtwechsel in Belarus, wird die Situation an den europäischen Grenzen beruhigen können und auch die Beziehungen zwischen den Nachbarstaaten Polen und Belarus wieder stabilisieren.

Am 30. August in Minsk, der Hauptstadt von Belarus, protestieren vor allem die Frauen gegen das Regime unter Alexander Lukaschenko. Auf ihrem Plakat steht: „Wir sind keine Ratten, wir sind Belarussen!“
Am 30. August in Minsk, der Hauptstadt von Belarus, protestieren vor allem die Frauen gegen das Regime unter Alexander Lukaschenko. Auf ihrem Plakat steht: „Wir sind keine Ratten, wir sind Belarussen!“ © dpa | Uncredited

Für einen Machtwechsel braucht es eine starke Opposition. Wie viel ist von ihr noch geblieben?

Ich persönlich kann mit dem Wort Opposition nicht viel anfangen. Da wir kein demokratischer Staat sind, gibt es bei uns keine oppositionellen Parteien, wie etwa in Deutschland. Viele Aktivisten sind im Gefängnis, im Exil und sehr viele Menschen haben Angst. In Belarus gibt es nur ein Regime, das das Volk unterdrückt und auf der Gegenseite die Menschen, die das Regime abschaffen wollen. Und wir sind in der Mehrheit, denn wir sind das belarussische Volk.

Aber Demonstrationen finden seit Monaten nicht mehr statt.

Tichanowskaja: Wir nutzen alle Maßnahmen des gewaltfreien Widerstandes. In Belarus gibt es ein sehr großes Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten, die im Verborgenen agieren. Die Demonstrationen, wie die Welt sie im vergangenen Jahr gesehen hat, sind nur der sichtbare Teil einer Protestbewegung. Es ärgert mich deshalb, wenn ich höre, dass Außenstehende denken, in Belarus ist alles wieder ruhig und die Menschen hätten sich mit dem Regime abgefunden. Das stimmt nicht.

Es muss sehr demotivierend sein, zu sehen, wie viele Ihrer Wegbegleiter bereits im Gefängnis sitzen. Wo nehmen Sie die Kraft her, weiterzumachen?

Tichanowskaja: Ich bin ehrlich, ich fühle mich oft erschöpft. Vor allem, wenn mich schlechte Nachrichten aus Belarus erreichen. Wenn ich höre, wie viele Menschen wieder festgenommen oder entführt wurden. Aber ich muss mir immer wieder vor Augen führen, in welcher privilegierten Situation ich mich befinde. Also sage ich mir immer wieder: Du kannst dich ausruhen, aber später. Jetzt trägst du die Verantwortung für diese Leute und setzt dich für sie ein.

Denken Sie, Deutschland hat sich genügend für Belarus eingesetzt?

Tichanowskaja: Ich bin Deutschland sehr dankbar dafür, was es bisher für die belarussische Bevölkerung getan hat und dass sich die deutsche Regierung stets für die Demokratie in Belarus ausgesprochen hat. Aber wenn ich an die Menschen in den Gefängnissen denke, muss ich sagen, dass es immer noch nicht ausreicht.

Deutschland ist weltweit eines der einflussreichsten Länder und hat sich zu einer Hochburg der Demokratie entwickelt. Es ist an der Zeit, diesen Einfluss zu demonstrieren.

Sie werden während Ihres Deutschlandbesuchs auch den Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffen: Was wollen Sie ihm sagen?

Tichanowskaja: In erster Linie möchte ich an Bundespräsident Steinmeier, aber auch an die künftige Regierung von Deutschland appellieren, die Unterstützung für Belarus fortzusetzen. Hilfsprogramme für politische Gefangene etwa oder für entlassene Lehrkräfte sollten weiterhin gewährleistet werden, genauso die Stärkung unabhängiger Medien.

Und ich werde bei meinem Besuch in Deutschland nochmal darauf hinweisen, dass ein Dialog mit dem Regime von Lukaschenko nicht möglich ist. Geheime Verhandlungen hinter den Kulissen lösen das Problem nicht.

Sie waren seit über einem Jahr nicht mehr in Belarus. Was vermissen Sie am meisten?

Tichanowskaja: Am meisten vermisse ich die Menschen. Meinen Ehemann, meine Verwandten, meine Freunde. Aber es sind auch viele kleinen Dinge, die mir fehlen, wie Straßen, Geschäfte und Lokale. Belarus wird für mich immer mein Heimatland bleiben, mein Herz schlägt für Belarus und sobald es geht, werde ich zurückgehen.