Berlin. Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock will die nächste Bundesregierung anführen. Und dafür mit allem kämpfen, was sie hat.

"Ist Annalena Baerbock da drin?" Ein älteres Ehepaar in der Potsdamer Innenstadt schaut durch die Fenster des "Ladenlokals" der grünen Kanzlerkandidatin. Von der Decke wachsen Pflanzen, an den Wänden hängen Baerbock-Poster (auf einem ist Co-Parteichef Robert Habeck mit drauf). Die Frau, die Angela Merkel beerben möchte, aber im Wahlkampf ins Stolpern geraten ist, nimmt an einem Holztisch Platz und stellt sich den Fragen unserer Redaktion.

Glauben Sie ernsthaft, dass Sie Kanzlerin werden, Frau Baerbock?

Annalena Baerbock: Wahlkampf ist keine Glaubenssache. Ich werbe dafür, dieses Land zu erneuern. Die beiden Herren der großen Koalition stehen für ein Weiter-so.

Die Grünen sind auf den dritten Platz hinter Union und SPD zurückgefallen - obwohl die Flutkatastrophe den Klimawandel mit neuer Dringlichkeit ins Bewusstsein gerufen hat.

Baerbock: Wir stehen knapp hinter Union und SPD. Das heißt: Für uns ist bei dieser Bundestagswahl alles drin. Klimaschutz ist eine Menschheitsaufgabe, die wir endlich angehen müssen. Die nächste Regierung muss den Kampf gegen die Klimakrise als ihre Top-Priorität verankern - in einem Kanzlerinnenamt, als Klimaregierung. Wir kämpfen mit allem, was wir haben, die nächste Bundesregierung anzuführen.

Im Wahlkampf ist das Bild einer Kandidatin entstanden, die sich toller machen will, als sie ist - Stichwort aufgehübschter Lebenslauf. Was hat die Kritik bei Ihnen ausgelöst?

Baerbock: Ein Nachdenken. Ich bin kein Mensch, der dann sagt: Augen zu und durch. Ich reflektiere, was schief gelaufen ist und was ich in Zukunft besser machen kann. Politisch ist jetzt die entscheidende Frage: Haben wir den Mut, Zukunftsaufgaben wie Klimaschutz, Digitalisierung und eine bessere Gesellschaft für Kinder an erste Stelle zu setzen. Dafür werbe ich um Vertrauen.

Denken Sie manchmal, dass es besser gewesen wäre, Robert Habeck den Vortritt zu lassen?

Baerbock: Ich denke daran, die nächsten vier Wochen zu nutzen, um einen echten Aufbruch in diesem Land zu schaffen.

Wie wollen Sie das Blatt wenden?

Baerbock: Ich komme aus dem Sport: Wenn man in der ersten Halbzeit ein paar Tore kassiert, dann geht man doch nicht in die Pause und sagt "Das war’s jetzt". Dann rauft man sich als Team nochmal zusammen, schnürt die Schuhe, geht raus und tut alles, um das Spiel zu gewinnen. Und für die Wahl gilt das Gleiche. Es kommt auf jede Stimme an. Das ist eine Richtungswahl.

Würden Sie auch mit der Linkspartei regieren?

Baerbock: Grundsätzlich gilt, dass in einer Demokratie alle demokratischen Parteien gesprächsfähig sein müssen. Allerdings hat sich die Linke gerade ziemlich ins Abseits geschossen, als sie nicht mal bereit war, die Bundeswehr dabei zu unterstützen, deutsche Staatsangehörige und Ortskräfte aus Afghanistan zu retten.

SPD-Kandidat Olaf Scholz verlangt von der Linken ein Bekenntnis zur Nato - als Bedingung für ein Regierungsbündnis. Sollten Sie das nicht auch tun?

Baerbock: Deutschland muss in der Außen- und Sicherheitspolitik handlungsfähig und als Partner verlässlich sein. Das ist Maßgabe für jede Regierung, natürlich. Ich bin leidenschaftliche Außenpolitikerin und werbe dafür, Außenpolitik wieder aktiv zu betreiben, europäisch und mit einer klaren Haltung. In den letzten Jahren ist das ja nicht passiert - autoritäre Kräfte wie China und Russland haben die Lücke, die so entstanden ist, gefüllt. In Afghanistan hatte dieses Abtauchen in den letzten Wochen katastrophale Folgen.

Ein Bekenntnis zur Nato fordern Sie nicht?

Baerbock: Verlässlichkeit in der Außenpolitik heißt auch, zur NATO zu stehen.

Wer trägt Verantwortung für das Desaster der Afghanistan-Mission?

Baerbock: Nach 20 Jahren müssen wir alle kritisch hinterfragen, warum bei dem Afghanistan-Einsatz so viel falsch gemacht wurde. Einer der größten Fehler war, dass es keine Exit-Strategie gab - nicht von der Nato, nicht von den Amerikanern und auch nicht von der Bundesregierung. Das hat sich jetzt bitter gerächt. Hals über Kopf die Truppen rauszuziehen, war ein Fiasko mit Ansage. Die Bundesregierung hat den Kopf in den Sand gesteckt statt die Ortskräfte vor den Taliban zu retten - aus Angst, im Wahlkampf über Afghanistan zu reden. Lesen Sie dazu: Afghanistan: Das Schicksal der Menschen steht jetzt im Fokus

Sind Rücktritte fällig?

Baerbock: Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss. Fehlentscheidungen haben dazu geführt, dass wir jetzt in dieser Katastrophe stecken. Fehlentscheidungen des Auswärtigen Amts, des Entwicklungsministeriums, des Innenministeriums, des Kanzleramts - und auch Vizekanzler Olaf Scholz kann sich hier nicht wegducken. Es kann nicht sein, dass sich Union und SPD gegen einen Untersuchungsausschuss sperren und nicht einmal sicherstellen wollen, dass keine Akten gelöscht werden. Ja, zu normalen Zeiten müsste es jetzt Rücktritte geben. Aber wir sind vier Wochen vor einer Bundestagswahl. Das wichtigste ist jetzt die Rettung der Menschen und die schonungslose Aufklärung.

Wie viele Menschen aus Afghanistan können bei uns Zuflucht finden?

Baerbock: Jetzt geht es erstmal darum, überhaupt noch Menschen in Sicherheit zu bringen. Menschen, gegenüber denen wir eine besondere Verpflichtung haben. Das heißt, die noch dort verbliebenen Deutschen zu retten, aber auch die Ortskräfte, die alles für uns riskiert haben. Und Menschen, die besonders gefährdet sind: Journalistinnen, Menschenrechtsverteidiger, Frauenrechtlerinnen und deren Familienangehörige. Auch nach dem Ende der Evakuierungsflüge durch die Bundeswehr müssen wir alles daran setzen, sie sicher aus dem Land herauszubekommen.

Würden Sie einen Geflüchteten bei sich zu Hause aufnehmen?

Baerbock: Ich habe vor einigen Jahren mit anderen zusammen für eine Familie aus Syrien gebürgt, um sie in Sicherheit zu bringen. Aber mir ist wichtig: Wir haben eine andere Situation als damals. Wir haben doch offenkundig die allergrößten Probleme, die Menschen, die wir retten müssen, aus Afghanistan rauszuholen.

Waren Sie selbst schon in Afghanistan?

Baerbock: Nein.

Gehören die übrigen Auslandseinsätze der Bundeswehr auf den Prüfstand?

Baerbock: Wir brauchen angesichts der vielen Fehler in Afghanistan eine unabhängige Evaluierung aller Auslandseinsätze mit Fachleuten aus der Bundeswehr, mit Friedensforscherinnen und Entwicklungsexperten. Dem hat sich die große Koalition über all die Jahre verweigert. Ich will aber betonen: Wir haben eine Verantwortung in der Welt. Auch Nichthandeln - das haben wir bei den Jesidinnen und Jesiden im Nordirak gesehen - kann zu massivem Leid führen.

Ist der gefährliche Einsatz in Mali im deutschen Interesse?

Baerbock: In der Außenpolitik geht es nicht nur um deutsche Interessen, sondern um unsere internationale Verantwortung für Frieden, Stabilität und Menschenrechte. Aber auch in Mali sehen wir eine sich deutlich verschlechternde Sicherheitslage, massive Korruption, eine instabile Regierung, das ist durchaus problematisch. Den Einsatz der Vereinten Nationen zur Stabilisierung halte ich aber nach wie vor für richtig. Bei der EU-Mission zur Ausbildung der Sicherheitskräfte habe ich einige Zweifel, weil sie beinhaltet, dass wir auch Sicherheitskräfte des Tschads - einer Diktatur - mit ausbilden. Das gehört alles mit zu der genannten Evaluierung dazu.

Das Desaster in Afghanistan hat die Corona-Krise erst einmal in den Hintergrund treten lassen - aber die Infektionszahlen in Deutschland steigen rasant. Wie sollte der Staat den Impffortschritt beschleunigen?

Baerbock: Schon vor Beginn der Sommerpause hat man gesehen, dass die Impfbereitschaft nachlässt. Wir müssen endlich mit voller Kraft dorthin, wo die Leute sind: in die Quartiere, vor Supermärkte, zu Sportzentren, auf Schulhöfe.

Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hält es für richtig, Geimpften und Genesenen in der Corona-Pandemie wieder mehr Freiheiten zu geben.
Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hält es für richtig, Geimpften und Genesenen in der Corona-Pandemie wieder mehr Freiheiten zu geben. © Reto Klar / Funke Foto Services

Und wenn das nicht reicht - können Sie sich eine Impfpflicht vorstellen?

Baerbock: Eine allgemeine Impfpflicht ist in Deutschland nicht durchsetzbar - schon aus rechtlichen Gründen. Es braucht mobile Impfteams, eine intensive Ansprache, Aufklärung übers Impfen in ganz vielen Sprachen. Da dürfen wir nicht nachlassen, gerade auch, um Kinder zu schützen.

CDU-Kandidat Armin Laschet verspricht, dass es nie wieder einen Lockdown gibt. Schließen Sie sich an?

Baerbock: Niemand, den ich kenne, will wieder einen Lockdown haben. Gerade die umfassenden Schulschließungen waren katastrophal. Daher gilt es jetzt, die Pandemie so entschlossen wie möglich zu bekämpfen und dabei so viel Freiheit wie möglich zu garantieren.

Wie denken Sie über besondere Einschränkungen für Ungeimpfte?

Baerbock: Wenn jemand nicht solidarisch mit seinen Mitmenschen ist - mit Kindern oder mit chronisch Kranken, die nicht geimpft werden können -, dann kann er oder sie nicht erwarten, dass alle anderen auf ihre Freiheit verzichten. Deswegen halte ich es für richtig, Geimpften und Genesenen wieder mehr Freiheiten zu geben, so wie Hamburg das jetzt macht. Damit erhöhen wir auch den Anreiz, sich impfen zu lassen. Ausnahmen muss es natürlich für jene geben, die sich nicht impfen lassen können. Für sie muss ein Test genügen. Lesen Sie auch: Corona: Doppeltes Risiko für Krankenhauseinweisung bei Delta

Sind Menschen, die sich in ländlichen Regionen mit Corona infizieren, im Nachteil?

Baerbock: Corona hat die Stärken und Schwächen unserer Gesellschaft wie unter einem Brennglas gezeigt. Wenn jemand Corona bekommt, aber im Dorf gerade die Landarztpraxis geschlossen hat, weil sich keine Nachfolge mehr findet, dann ist das ein echtes Problem. In einer Pandemie zeigen sich solche Lücken natürlich besonders krass - vor allem in ländlichen Regionen. Gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen ist daher eine der wichtigsten Aufgaben.

Worauf wollen Sie hinaus?

Baerbock: Ich kann Ihnen drei Punkte nennen: In der Krankenhausfinanzierung brauchen wir eine starke Säule der Strukturfinanzierung, damit Kliniken in Zukunft nicht mehr nur nach den Fallzahlen, sondern entlang ihres gesellschaftlichen Auftrags finanziert werden. Es muss gelten: Die Patientinnen und Patienten stehen im Mittelpunkt, nicht der Profit. Zweitens sollten wir in jeder dünn besiedelten Region die Einrichtung von mindestens einem Gesundheitszentrum ermöglichen, das die hausärztliche Versorgung übernimmt, in Absprache mit den lokalen Gesundheitsämtern und Pflegestützpunkten präventive Angebote macht und eine Anlaufstelle für die Menschen in der Region bietet. Und drittens sollten wir auf eine Errungenschaft aus früheren Zeiten zurückgreifen: die Gemeindeschwester.

Nach dem Vorbild der DDR?

Baerbock: Gemeindeschwestern haben im Osten über 40 Jahre die medizinische Versorgung in den Dörfern aufrechterhalten. Pflegefachkräfte könnten heute wieder zu den Menschen hinfahren, auch unabhängig von einem Arzt einfache Medikamente verschreiben, Wunden versorgen, Gesundheitstipps geben. Das würde auch in der Pandemie helfen. Gemeindeschwestern, zu denen die Menschen ein Vertrauensverhältnis haben, könnten erfolgreich für die Corona-Impfung werben.

Sie legen Wert auf eins geschlechtergerechte Sprache, sagen nicht Kanzleramt, sondern Kanzlerinnenamt. Sollte das Gendern allgemein geregelt werden?

Baerbock: Wie wir denken, Witze machen oder sprechen, ist in einem liberalen Land zum Glück eine freie Entscheidung. Mir persönlich ist wichtig, Menschen mit Respekt zu begegnen, sie direkt anzusprechen und nicht nur so nebenbei mitzumeinen.

Was sagen Sie jenen, die das Gendersternchen oder den Doppelpunkt mitten im Wort für eine Verhunzung der deutschen Sprache halten?

Baerbock: Klar, wenn man das zum ersten Mal sieht, ist es irritierend. Aber Sprache verändert sich, und in diesem Prozess sind wir gerade mittendrin. Doch es sollte nicht zu einem harten Kulturkampf gemacht werden.

Halten Sie es für wichtig, dass Gesetzestexte gegendert werden?

Baerbock: Wenn jeder Betrieb es schafft, bei Stellenausschreibungen Männer und Frauen gleichermaßen mit anzusprechen, dürfte es doch für den Gesetzgeber auch zu schaffen sein.