Berlin. Rund 4000 Afghanen flog die Bundeswehr aus Afghanistan. Jetzt müssen Bund und Länder erst einmal herausfinden, wer hier gelandet ist.
Man muss die Geschichte an ihrem bitteren Ende beginnen. Bei Menschen wie Ali. Bei Menschen, die es nicht geschafft haben. Die noch immer in Kabul festsitzen – und doch nichts sehnlicher möchten als raus. „Hey Bruder, hast du Neuigkeiten über meinen Fall? Die Situation hier wird für mich immer schlimmer“, schrieb er.
Die Taliban seien schon vorbeigekommen beim Haus des Vaters, hätten Alis Laptop und das Handy seiner Frau beschlagnahmt. Nur weil er einen Tipp bekommen hatte, konnte er vorher abtauchen in der Stadt.
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Ali, der eigentlich anders heißt, ist Anfang 30, hat drei Kinder, arbeitete bis zuletzt für eine afghanische Menschenrechtsorganisation, er war für Kinderrechte zuständig. Die Organisation wurde von den Vereinten Nationen bezahlt, für die neuen Herrscher Afghanistans sind Menschen wie Ali Kollaborateure, feindliche Agenten. Seine Vorgesetzten, sagt er, seien schon geflohen aus dem Land. Ali muss bleiben.
Mehr als 5000 Menschen rettet die Bundeswehr – weit weniger als geplant
Die Bundeswehr hat gestern ihre Luftbrücke nach Kabul beendet, um Menschen zu retten, die für Deutschland als afghanische Ortskräfte gearbeitet haben oder die als „gefährdet“ gelten. Durch den Terroranschlag ist die Evakuierung massiv behindert. Und in ein paar Tagen ziehen auch die Amerikaner ab. Die Luftbrücke war historisch. Für Ali könnte die Geschichte schlecht enden.
Für Mahmood Jawed ging diese Geschichte gut aus. Aus dem Fenster des Zimmers kann man Bäume sehen, und den blauen niederrheinischen Himmel, und Mahmood Jawed lächelt mit einem Dreitagebart in die Kamera und sagt: „Hier ist es sehr gut.“
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Er hat das Kamiz und die Salwar, die traditionelle Bekleidung afghanischer Männer, gegen einen Jogginganzug getauscht. Einige Nächte haben sie jetzt schon in der zentralen Unterbringungseinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen in Viersen verbracht.
Insgesamt haben in Viersen bislang 285 Menschen Obdach gefunden, die aus Afghanistan gerettet wurden. Manche werden nach wenigen Tagen wieder abreisen, weil sie Angehörige in anderen deutschen Städten haben. Jawed wird mit seiner Familie wohl länger bleiben, er hat niemanden. „Wir sind zu acht auf unserem Zimmer, aber es ist groß und sauber und wir fühlen uns sehr wohl.“ Er zeigt auf die Schrubber an der Wand. „Ich habe hier gerade geputzt.“
Bundesamt verteilt die Flüchtlinge vom Frankfurter Flughafen
In zehn Tagen Luftbrücke hat die Bundeswehr mehr als 5300 Menschen ausgeflogen, davon 500 Deutsche, 4000 Afghanen und andere Ausländer. Geplant waren eigentlich 10.000 Menschen, die Deutschland retten wollte.
Und: Noch mehr als 10.000 Afghaninnen und Afghanen sind in dem Land zurückgeblieben, schätzt das Auswärtige Amt. Sie alle hatten eine Aufnahmegarantie von Deutschland. Darunter 300 deutsche Staatsangehörige und Doppelstaatler. Wo genau die Menschen untergetaucht sind, weiß das Außenministerium nicht.
Wer es geschafft hat, kam mit Lufthansa-Maschinen aus Taschkent nach Deutschland – und viele sind nun in den Bundesländern verteilt. Niedersachsen hatte angekündigt, 400 Menschen aufzunehmen, Nordrhein-Westfalen 800, und selbst das kleine Schleswig-Holstein 100.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) gibt an, dass 25 Mitarbeiter am Flughafen Frankfurt im Einsatz sind, testen die Ankommenden auf Corona, registrieren die Geretteten gemeinsam mit der Bundespolizei. Die Beamten prüfen, ob die Person in den Datenbanken der Polizei bekannt ist, oder etwa eine Einreisesperre verhängt war. Dann verteilt das Bamf die Menschen in den Bundesländern.
Das Personal vor Ort muss erst einmal herausfinden: Wer ist Ortskraft?
Nach Informationen unserer Redaktion sind die Flüchtlinge aus Afghanistan in manchen Einrichtungen der Länder in Corona-Quarantäne. In anderen nicht. Vor Ort muss das Personal in den Unterkünften zunächst herausfinden, wer als Ortskraft etwa für die Bundeswehr gearbeitet hat, wer als Menschenrechtler oder Journalistin verfolgt wurde.
Afghanische Ortskräfte, so wie Mahmood Jawed, bekommen einen Aufenthaltstitel. Sie sind auf Ticket der Bundesregierung im Land. Andere, etwa geflohene Menschenrechtler, müssen einen Asylantrag stellen. Das kann dauern. Die Folge: Ortskräfte mit Schutztitel können schon arbeiten. Asylantragsteller frühestens in neun Monaten.
Zwischen Bund und Ländern beginnt nun ein tagelanges Sortieren: Wer ist Ortskraft? Wer hat wo Verwandte? Wer muss erstmal Asyl beantragen? Einige Bundesländer drängen darauf, dass der Bund mehr Geld an die Länder zahlt, die für Versorgung und Unterbringung verantwortlich sind. Rheinland-Pfalz fordert sogar einen Sondergipfel.
Viele Afghanen haben keine Pässe oder kein Visum
Ein weiteres Problem: Nur ein Teil der afghanischen Flüchtlinge kommt mit Pässen oder Visum, manche haben nur ein Zertifikat der Bundeswehr. Oder nicht einmal das. In Einzelfällen wird nun auch auffallen: Manch ein geretteter Afghane war schon einmal hier – und wurde abgeschoben.
Denn vor dem Durchmarsch der Taliban nach Kabul lag die Anerkennungsquote von afghanischen Schutzsuchenden bei deutlich unter 50 Prozent. Das Innenministerium spricht nun von vier vormals Abgeschobenen, die per Luftbrücke wieder in Deutschland sind.
Auch unserer Redaktion ist ein Fall bekannt: Ein Afghane wurde vor Jahren aus Deutschland abgeschoben – und arbeitete in Afghanistan für die Bundeswehr als Dolmetscher.
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Eine Sicherheitsüberprüfung war angesichts der chaotischen Lage am Kabuler Flughafen nicht möglich. Und das Visumsverfahren des Auswärtigen Amtes dauerte schon vor der Herrschaft der Taliban Monate oder Jahre. In Kabul war es seit einem Anschlag auf die Botschaft 2017 gar nicht mehr möglich, ein Visum, einschließlich sorgfältiger Prüfung, zu beantragen – alles Faktoren, die dazu führten, dass Deutschland nun in einer hochriskanten Luftbrücke die afghanischen Ortskräfte retten musste.
Mehr als 7000 Menschen bereits in einem Camp in Ramstein
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) will nun in die Region reisen und sich über die Lage der Geflüchteten aus Afghanistan auch in den Nachbarstaaten wie etwa Pakistan und Usbekistan informieren. Deutschland will vor Ort in der Region bei der Versorgung von Flüchtlingen helfen. Der Außenpolitik-Experte der Grünen Omid Nouripour warnt: „Die Bundesregierung darf jetzt nicht Menschenrechtsverletzern wie dem iranischen Staatspräsidenten Geld versprechen, damit sie Türsteher für Europa spielen.“ Stattdessen solle die Bundesregierung die Organisationen der Vereinten Nationen wie dem Flüchtlingshilfswerk oder dem Welternährungsprogramm „endlich genug Geld und Personal“ geben.
Eine Aufstockung der Mittel für die humanitäre Hilfe für Afghanistan hatte Außenminister Maas bereits angekündigt. Bei seiner Reise in die Nachbarländer Afghanistans ab Sonntag will er sich auch um rasche Ausreisemöglichkeiten für bedrohte Menschen bemühen. Das fordert auch CDU-Innenexperte und Fraktionsvize Thorsten Frei: „Klar ist, dass wir nun auch weiterhin versuchen müssen, Menschen aus Afghanistan zu holen, die für deutsche Regierungsbehörden, das Militär oder etwa deutsche Stiftungen gearbeitet haben“, sagte er unserer Redaktion.
Für afghanische Ortskräfte habe Deutschland eine besondere Verantwortung. „Das gilt auch für afghanische Ortskräfte, die außerhalb Afghanistans in Flüchtlingscamps festhängen“, sagte Frei.
Mehr als 7000 Menschen waren Mitte der Woche bereits in einem Camp in Ramstein in Rheinland-Pfalz untergebracht. Dort hat das US-Militär ihre Luftwaffe stationiert. Während der Luftbrücke nach Kabul ist Ramstein Zwischenstation.
Mit Schrecken beobachtet Jawed aus der Ferne den Terror
Die afghanischen Geretteten werden hier registriert, überprüft und bei Bedarf medizinisch behandelt. Die Landesregierung geht davon aus, dass die Airbase nur „Drehkreuz für die Weiterreise“ ist. Zahlen und feste Daten für diese Reise haben die Amerikaner indes nicht genannt. Unklar ist, wie sie etwa mit den Menschen umgehen werden, die sie auf keinen Fall nach Amerika fliegen wollen – zum Beispiel weil sie Sicherheitsbedenken haben.
Der afghanische Familienvater Mahmood Jawed sieht nun von Deutschland aus, wie der Terror in seinem Land auch nach 20 Jahren internationaler Truppenstationierung weitergeht. „Alle sind sehr, sehr traurig über die Anschläge und die vielen Toten. Das ist schlimm“, sagt Jawed.
Ein Mann hätte erzählt, dass seine Tochter bei den Angriffen verletzt worden sei. Andere hätten Verwandte, die das Grauen erlebt hätten, ohne verwundet worden zu sein. Afghanistan ist auch in Viersen ganz nah. Jawed will mit den Kindern an diesem Freitag das erste Mal herausgehen. „Sie wollen sehen und fühlen wie Deutschland ist.“