Kabul/Frankfurt . Sie haben überlebt – aber alles verloren. Der Familie eines früheren Orthelfers ist die Flucht aus Kabul im letzten Moment geglückt.

Gegen 22 Uhr Kabuler Ortszeit kommt am Montag die erlösende Sprachnachricht. „Der Mann hat mich aus dem Airport angerufen und mir gesagt, dass er mich bis Mitternacht wieder anruft und dass ich mit den Kindern zum Airport gehen soll.“

15 Stunden später schickt Mahmood Jawed (42) ein Bild vom Frankfurter Flughafen. Darauf sind er, seine Frau und die sechs Kinder zu sehen. Sie sind erschöpft. Aber sie haben es geschafft. Sie sind raus aus Afghanistan.

Ehemalige Ortskräfte sind Ziel der Taliban

In den Tagen davor klangen Jaweds Nachrichten über das Handy immer bedrückter, immer hoffnungsloser. „Wir sind wieder vom Flughafen weggegangen, weil die Situation da sehr schlecht ist. Da wurde viel geschossen, fünf, sechs Leute sind verletzt worden, zwei getötet. Meine Kinder waren sehr besorgt und haben geschrien und geweint.“

Im Hintergrund seiner Sprachnachrichten ist häufig aufgeregtes Stimmengewirr zu hören. Immer wieder knallen Schüsse. Zu diesem Zeitpunkt ist Jawed mit seiner Familie schon seit zwei Tagen am Flughafen. Er muss weg aus Afghanistan, weil er als Ortskraft für die Bundeswehr gearbeitet hat und jetzt ein potenzielles Ziel der neuen Herrscher ist.

Die 6-köpfige afghanische Familie Jawed übernachtete tagelang unter Lebensgefahr am Flughafen.
Die 6-köpfige afghanische Familie Jawed übernachtete tagelang unter Lebensgefahr am Flughafen. © privat | Privat

Afghanistan: Mitten in der Nacht muss die Familie fliehen

Fast 4000 Menschen hat allein die Bundeswehr am Dienstag aus Afghanistan gerettet. Doch die Lage vor dem Flughafen ist auch mehr als eine Woche nach Beginn der Luftbrücke chaotisch. Und die deutsche Regierung ist beunruhigt: Mehr und mehr Afghanen fliehen von anderen Städten in Richtung Kabul, wollen einen der Rettungsflieger erreichen.

Auch gefälschte Pässe und Zertifikate sind mittlerweile im Umlauf, dubiose Gruppen organisieren „Shuttles“ zum Flughafen, vorbei an den Checkpoints der Taliban: Sicherheit gegen Geld. Und auch die Sorge vor Terrorangriffen am Flughafen wächst. Selbstmordattentäter würden „zunehmend in die Stadt einsickern“, so deutsche Regierungsbeamte.

Menschen in Afghanistan müssen hastig fliehen

Am Mittwoch vor der Machtübernahme der Taliban sitzt der 42-Jährige mit seinen sechs Kindern in einem Büro des Friedensdorfes International im Osten von Kabul. Er spricht nahezu perfekt deutsch, langsam, leise, berichtet von den aufreibenden Tagen, seit er und seine Familie aus Kundus fliehen mussten, jener Stadt 350 Kilometer nördlich von Kabul, nahe der die Bundeswehr bis 2013 ein großes Feldlager betrieb.

Anfang August starteten die Taliban einen Großangriff auf die Stadt. Mitten in der Nacht auf den 2. August hämmerten Regierungssoldaten an Jaweds Tür und an die Türen seiner Nachbarn: „Sie haben uns gesagt, wir sollen sofort das Haus verlassen, wir hätten zehn Minuten.“ Es war nicht einmal Zeit, allen Kindern Schuhe anzuziehen.

Kurze Zeit später schlugen Geschosse ein. Das Haus brannte ab und mit ihm alle Dokumente, die Beweise dafür, dass Jawed für die Deutschen gearbeitet hat. Zwischen 2003 und 2011 hat er für die Bundeswehr gedolmetscht. Danach arbeitete er als Taxi-Unternehmer, fuhr mehrmals wöchentlich die Strecke Kundus–Kabul, die im Laufe der Jahre immer gefährlicher wurde. Auf einer der Fahrten hielten ihn Taliban im Juli 2019 an. „Hast du für die Ausländer gearbeitet?“, fragten sie ihn. „Nein, habe ich nicht“, antwortete er. „Doch, hast du, wir wissen das.“

Afghanistan: Taliban haben Ortskräfte im Visier

Von da an wusste Jawed: Sie haben ihn im Visier. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Bis zur Schlacht um Kundus Anfang August. Nach der Flucht aus Kundus verbringt die Familie zehn Tage in einem Park in Kabul. Mithilfe deutscher Freunde kann sich Jawed schließlich eine Unterkunft in der Nachbarprovinz Parwan mieten. Doch die Ereignisse überschlagen sich. Am 15. August fällt Kabul, und Jawed will nur noch eins: Irgendwie raus.

Als die Nachrichten von den ersten Hausdurchsuchungen durch die Taliban in den sozialen Medien kursieren, entschließt er sich, wieder nach Kabul zu gehen, zum Flughafen, dem Tor in die Freiheit.

Jawed weiß aber nicht, wie er beweisen soll, dass er für die Bundeswehr gearbeitet hat. Einige alte verblichene Fotos, die seine Schwester aufbewahrt hat, sind der einzige Hinweis, dass er mit deutschen Soldaten auf Patrouille war. Reicht das? In Deutschland sieht ein Oberstabsfeldwebel a. D. die Fotos. An­dreas Eggert, der siebenmal in Afghanistan war und dort für den Militärischen Abschirmdienst gearbeitet hat. Er erkennt Jawed. „Der hat mal bei mir gesessen“, ist er sich sicher, verbürgt sich für den Mann. Doch erst mal hilft das wenig.

Bundeswehr: Deutsche Soldaten holen Familie auf Flughafen

Mahmood Jawed kommt mit der Familie zwar unversehrt zum Flughafen. Davor versperrt jedoch eine panische, aufgewühlte Menschenmenge den Weg. Jawed sieht die Soldaten der Bundeswehr hinter den amerikanischen Marines und den afghanischen Sicherheitskräften, die in erster Reihe sind, immer wieder Warnschüsse abfeuern, um die Menge in den Griff zu bekommen. Menschen werden zu Tode getrampelt.

Jawed kann sich den Deutschen nicht bemerkbar machen. Drei Tage stehen sie vor dem Flughafen, suchen manchmal erschöpft Schatten unter Büschen, warten. Dann kommt schließlich am Montag der Anruf der Bundeswehr. Jawed macht sich sofort auf den Weg. Vor dem Nordtor sichten ihn deutsche Soldaten. „Die sind mit vier Jungs rausgekommen und haben uns hereingeholt“, erzählt er. „Ich bin so dankbar.“