Essen. Nicht nur in Afghanistan, auch in anderen Notlagen kommt die Regierung überbürokratisiert, überreglementiert und zugleich ungeordnet daher.

Jetzt kann es in Afghanistan nur darum gehen, ganz schnell möglichst viele Menschen zu retten. Das Leid und Elend, das Entsetzen und die Angst vor dem Tod, die den Menschen ins Gesicht geschrieben stehen, geben nur einen Eindruck davon, wie groß die Not wirklich ist.

Aus Deutschland blicken wir ungläubig, entsetzt und voller Mitleid auf das Geschehen in Kabul. Auch spielt Wut eine große Rolle. Wut über ein politisches Versagen des Westens, das mit etwas zeitlichem Abstand eine historische Dimension erlangen wird. Der Vergleich zum Vietnam-Desaster ist keineswegs übertrieben. Unsere Freiheit muss auch am Hindukusch verteidigt werden, hatte der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck einmal mit Blick auf den Afghanistan-Einsatz gesagt. Heute bleibt festzustellen, dass nichts, aber auch gar nichts von den einst so hehren Zielen übriggeblieben ist.

Mit fatalen, auch innenpolitischen Konsequenzen: Wer will künftige internationale Einsätze der Bundeswehr überhaupt noch legitimieren? Denn aus Vertrauen wurde Misstrauen. So dürfte es auch den Soldatinnen und Soldaten und deren Familien ergehen. Eine Parlamentsarmee, die künftig wem vertrauen soll? Der innerdeutsche Blick mag, verglichen mit dem Leid in Afghanistan, vorerst zweitrangig sein. Und dennoch ist er, gerade im Vorfeld wegweisender Weichenstellungen, von großer Bedeutung.

Hat die gesamtdeutsche Politik in Krisenlagen ihren Kompass verloren?

Festzuhalten bleibt: Die Bundesregierung präsentiert sich fünf Wochen vor der Bundestagswahl in einem desolaten Zustand. Bundeskanzlerin Merkel (CDU), Außenminister Maas (SPD), Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer (CDU) und Innenminister Seehofer (CSU) rücken aktuell vor allem ins Blickfeld, wenn es um das Scheitern in Afghanistan geht. Die Aufzählung zeigt, dass dies kein Thema einer einzelnen Regierungspartei, sondern ein sehr ernstes Thema der großen Koalition ist.

WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock
WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock © Kerstin Kokoska

Oder ist es gar noch mehr? Das Spiegelbild einer gesamtdeutschen Politik, die gerade in Krisenlagen ihren Kompass verloren hat? Am Ende der 16 Jahre dauernden Ära der Krisenkanzlerin Merkel zeigt die deutsche Politik immer dann erhebliche Schwächen, wenn es darum geht, schnell, unkonventionell und zugleich professionell zu handeln. Die wirtschaftlich erfolgreiche Nation, die als Export-Weltmeister weiterhin globales Ansehen genießt, kommt in Notlagen überbürokratisiert, überreglementiert und zugleich ungeordnet daher. Die politische Kompetenz der Krisenbewältigung scheint verloren.

Auch das Hin und Her während der Corona-Pandemie passt ins Bild

Das Hin und Her während der Corona-Pandemie inklusive eines überforderten Gesundheitsministers Spahn passt da ebenfalls ins Bild. Ebenso der ungenügende Umgang mit der Hochwasserkatastrophe, um ein weiteres aktuelles Beispiel zu nennen. Die schnellste und wirksamste Hilfe für die Flutopfer kam nicht durch staatliche Initiativen, sondern durch großes privates Engagement. Die Menschen krempelten längst die Ärmel hoch, als die Krisenzentren in Bund und den beiden Ländern NRW und Rheinland-Pfalz noch die Lage sondierten.

Hier schließt sich leider wieder der Kreis zum aktuellen Desaster in Afghanistan. Während andere Staaten längst gehandelt haben, bleiben die deutschen Hilfsflugzeuge zu lange am Boden, kommen zu spät an und fliegen dann mit sieben Geflüchteten zurück. Es ist ein Dilemma.