Berlin. Afghanistan ist verloren, zwanzig Jahre Einsatz umsonst gewesen. Man kann und sollte das Land nicht zu seinem Glück zwingen.

Es ist erst eine Woche her, dass Kundus in die Hände der Taliban fiel, danach Faizabad, Herat, Kandahar, Masar-i-Sharif. Wie lange die Hauptstadt Kabul gehalten wird, hängt von zwei Faktoren ab: von den Taliban und den USA. Definitiv nicht von den afghanischen Streitkräften. Noch vergangene Woche rechneten US-Geheimdienste mit dem Zusammenbruch in 30 bis 90 Tagen. Sie kalkulierten eine Kampfkraft ein, die Einbildung ist.

Die Armee hat 300.000 Soldaten – rechnerisch fünf Mal so stark wie die Taliban-Kämpfer –, gut ausgebildet und ausgerüstet. Allein, ihnen fehlt eine Basistugend: Loyalität zum Staat. Die Rufe, Afghanistan militärisch zu helfen, blenden das aus. Noch wird der Flughafen in Kabul von Hunderten Amerikanern kontrolliert. Die Militärmacht wird ihre Zahl auf mehrere Tausend Soldaten erhöhen. Sie hat in der Region Drohnen, Kampfflugzeuge, Bomber, Raketen. Die US-Streitkräfte könnten Kabul halten.

Taliban-Vormarsch: Kabuls Tage sind gezählt

Wahrscheinlich ist das Hauptziel der Amerikaner, Zeit zu gewinnen und so beschämende Bilder wie in Saigon am Ende des Vietnamkriegs zu vermeiden. Anders als damals wollen sie kontrolliert eine Vielzahl von Menschen außer Landes bringen, ohne Panik und Chaos.

Es ist auch das Szenario der Bundesregierung und der Bundeswehr, die gerade mit den Evakuierungen beginnt. Ob ihr so viel Zeit noch bleibt? Kabuls Tage sind gezählt. Man kann froh sein, wenn sich der gestrige Eindruck einer „friedlichen“ Machtübernahme bewahrheitet.

Truppenabzug aus Afghanistan war operativ überstürzt

Stellen wir uns eine einfache, aber unangenehme Frage: Nehmen die Afghanen gerade ihr Selbstbestimmungsrecht wahr? Kann es sein, dass sie nicht für das sterben wollen, das uns so verteidigungswert erscheint: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheits-, Bürger- und Frauenrechte? Wenn das so sein sollte, muss man es akzeptieren. Man darf andere Staaten nicht zu ihrem Glück zwingen.

Miguel Sanches, Politik-Korrespondent.
Miguel Sanches, Politik-Korrespondent. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Nun meinen einige, der westliche Truppenabzug am Hindukusch sei voreilig gewesen. Dagegen sprechen: fast 20 Jahre. Richtig ist, dass er operativ überstürzt wurde, weil die Amerikaner das Ende der Friedensverhandlungen zwischen Kabuler Regierung und Taliban nicht abgewartet haben. Sie nahmen jeden Einigungsdruck von den Taliban.

Afghanistan: Taliban bewegen sich im Volk wie Fische im Wasser

Wenn US-Präsident Biden sagt, ein weiteres Jahr Präsenz hätte keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten könne oder wolle, ist das richtig, aber auch ein Ablenkungsmanöver. Letztlich ging es darum, zum 4. Juli raus zu sein, zum US-Unabhängigkeitstag, auf keinen Fall bis zum 11. September zu bleiben, dem Jahrestag des Anschlags in New York. Es ging um innenpolitische Daten.

Die afghanischen Soldaten können kämpfen, sie wollen es nicht. Sie legen ihre Waffen nieder und gehen. Völlig überraschend ist es nicht. Früh gab es Probleme mit Innentätern in den Reihen der Militärs, mit Terrorakten. Das Hauptmotiv für den Dienst an der Waffe war der Sold und nicht, Afghanistan zu dienen. Die Loyalität gilt nicht einer Zentralregierung, sondern Clans, Stämmen, religiösen, ethnischen Gruppen. Die radikalislamischen Taliban sind vielen kulturell näher, als wir glauben wollten. Sie haben sich im Volk sprichwörtlich wie Fische im Wasser bewegt.

Für einen Bundeswehrsoldaten war es möglich, Monate in Masar-i-Sharif in einem festungsähnlichen Lager zu verbringen, ohne je die blaue Moschee zu besuchen oder ein Wort mit einem normalen Bürger zu wechseln. Das Scheitern des Westens ist auch ein kulturelles Fiasko – die Unfähigkeit, Land und Leute zu verstehen und für sich zu gewinnen. Die Bundesregierung hätte besser die amerikanische Brille abgelegt. Die Franzosen haben es getan. Sie zogen 2015 ab. Jetzt müssen sie sich nicht erklären.

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