Potsdam. Mit Olaf Scholz und Annalena Baerbock treten in Potsdam zwei Kanzlerkandidaten im direkten Duell an. Wer überzeugt die Wähler nun?

„Entschuldigung, wissen Sie, wer das ist?“, fragen die beiden Jungs auf dem Kunstrasenplatz. An ihnen zieht eine Schar von Kameras und Reportern vorbei. Sie folgen einem Mann der mit seinem edlen schwarzen Anzug nicht hierher zu passen scheint.

Der Fußballplatz ist eingerahmt von Plattenbauten, mitten im Potsdamer Stadtteil Am Stern. „Das ist der Finanzminister, Olaf Scholz. Der will Kanzler werden“, antwortet ein Mann, der neben dem Fußballtor lehnt, den Jungs. „Aha“, antworten die beiden. Und damit hat sich ihr Interesse wieder erledigt.

Wahlkampf findet vor Ort statt. Das gilt auch für einen amtierenden Finanzminister. Und erst recht für einen Kanzlerkandidaten. Neben den Marktplätzen der Republik muss SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz dabei zunächst die Wähler in seinem eigenen Wahlkreis überzeugen.

SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz im Wahlkampf in Potsdam: Die Stadt gilt als Hochburg der Sozialdemokraten.
SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz im Wahlkampf in Potsdam: Die Stadt gilt als Hochburg der Sozialdemokraten. © dpa | Soeren Stache

Der frühere Erste Hamburger Bürgermeister wohnt mit seiner Frau, der brandenburgischen Bildungsministerin Britta Ernst, seit 2017 in Potsdam und kandidiert im Wahlkreis 61, der neben Potsdam kleinere Vororte des Berliner Speckgürtels umfasst. Auch interessant: „Hoch Olaf“ – SPD-Wahlkampfauftakt mit perfektem Timing

Eigentlich unspektakulär. Würde nicht auch die Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock in Potsdam wohnen und sich ebenfalls um das Direktmandat in ihrer Wahlheimat bewerben. Zwei Kanzlerkandidaten im direkten Duell in einem Wahlkreis – das gab es noch nie.

Potsdam gilt als SPD-Hochburg

Fast 260 Jahre lang residierten in Potsdam die Könige, Kurfürsten und Kaiser aus dem Hause Hohenzollern. Sie ließen Prunkschlösser wie Sanssouci oder Cecilienhof bauen. Architektur, die in Nicht-Pandemie-Zeiten mehr als eine Million Touristen pro Jahr in die Stadt lockt, die regelmäßigen Tagesausflügler aus Berlin nicht mitgezählt. Nun wollen erneut zwei Wahlpotsdamer über die Geschicke Deutschlands entscheiden.

Olaf Scholz ist dabei im Vorteil. Potsdam gilt als SPD-Hochburg, seit der Wiedervereinigung stellten hier stets die Sozialdemokraten den Oberbürgermeister. Für Scholz ist Potsdam aber vor allem Mittel zum Zweck. Die knapp 180.000 Einwohner zählende Stadt, die als einzige Landeshauptstadt keinen eigenen ICE-Anschluss, dafür aber einen Bootsanlieger beim örtlichen Aldi-Markt hat, bietet Raum zum Abschalten.

Scholz rudert und läuft nach eigener Aussage gerne – beides kann er in Potsdam, das ringsum von Wasser umgeben ist, in sehr viel entspannterer Atmosphäre als im wuseligen Berlin. Und bei ruhiger Verkehrslage benötigt Scholz von seiner Haustür bis zum Bundesfinanzministerium in Berlin gerade einmal 35 Minuten. Zum Kanzleramt würde er noch fünf Minuten sparen.

Durch eine große Nähe zu den Potsdamerinnen und Potsdamern fiel Scholz bisher aber nicht auf. Anders Annalena Baerbock. Sie lebt seit mehr als acht Jahren mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Potsdam, gründete den Flüchtlingshilfeverein „Hand in Hand“ mit, ließ sich bei Ortsversammlungen blicken, kandidierte bereits 2013 (7,2 Prozent der Erststimmen) und 2017 (8,0 Prozent) im Wahlkreis als Direktkandidatin.

Baerbock gibt sich besonders bürgernah

Ihr Bundestagswahlkampf war zuletzt von Pannen geprägt. In Potsdam aber gibt sie sich bürgernah, überreichte der Arbeiterwohlfahrt 35 gebrauchte Schulranzen für den Schulanfang und ließ sich ebenfalls auf einem Fußballplatz blicken – im Potsdamer Stadtteil Am Schlaatz, der als Problemviertel gilt.

In Jeans, T-Shirt und Turnschuhen gekleidet kickte sie gegen den Ball, streifte sich ein Trikot über, jubelte mit den Kindern. Baerbock, die als Mädchen Fußball spielte, ist in ihrem Element.

Es ist ein Kontrast zu Olaf Scholz, der fünf Tage später im feinen Zwirn über den Kunstrasenplatz läuft. Während der gesamten 45 Minuten ist er peinlichst darauf bedacht, jeden Kontakt mit einem Fußball zu vermeiden.

Annalena Baerbock bei einem Jugendfußballturnier: Die Grünen-Politikerin, die als Mädchen Fußball spielte, ist in ihrem Element.
Annalena Baerbock bei einem Jugendfußballturnier: Die Grünen-Politikerin, die als Mädchen Fußball spielte, ist in ihrem Element. © dpa | Soeren Stache

Viel zu gewinnen gibt es bei einem unbeholfenen Tritt nicht. Zu verlieren dagegen schon, wie der von Petitessen bestimmte Wahlkampf zeigt. Armin Laschets zuletzt unbeholfen wirkende Auftritte sind ein Mahnmal. Lesen Sie auch: Wie die Union an Laschets Umfragewerten verzweifelt

Scholz als Kanzler – lange war das angesichts der Umfragewerte unvorstellbar. Doch es gibt Bewegung. Die SPD hat mit den Grünen gleichgezogen. Sollte ein Bündnis mit der FDP oder mit der Linken geschmiedet werden, könnten am Ende wenige Stimmen entscheiden, ob Scholz oder Baerbock die Nase vorne haben wird.

Scholz will Aufholjagd nicht gefährden

Würde der Kanzler direkt gewählt, wäre das Bild eindeutig: 44 Prozent wollen demnach Scholz, 21 Prozent Laschet, nur 16 Prozent Baerbock.

Eine solche Aufholjagd will Scholz nicht gefährden. Nicht gegen jeden Ball kicken, Fettnäpfchen meiden, staatsmännisch wirken. Aber gleichzeitig Nähe ausstrahlen. Scholz geht gefolgt von Fernsehkameras zu einem Mann, der am Spielfeldrand sitzt. Zwei Teenagerinnen ergreifen lachend die Flucht. Ob er Vater oder Trainer sei, will Scholz von dem zurückgelassenen Mann wissen. Beides antwortet er.

Als Scholz und der Kameratross weiterziehen, spricht der Mann über Politik. Die interessiere sich nicht für die Belange der einfachen Leute, findet er. Der Umgang mit der Pandemie sei völlig verfehlt. Wobei er ohnehin nicht an das Coronavirus glaube.

„Du spinnst doch“, sagt sein Kumpel, der neben ihm hockt. Der aber auch nichts von der Corona-Politik hält. Er habe einen Sohn in der ersten Klasse. Schlimm sei es, was man den Kindern in der Krise angetan habe. Und die Hilfen, etwa die gesenkte Mehrwertsteuer? „Jetzt ist doch alles doppelt so teuer wie vorher“, schimpft er. „Aber Scholz muss ja auch nicht selbst tanken.“ Also lieber Baerbock? „Die ist noch schlimmer“, meint der Vater. Zu viele Fehler, zu wenig Erfahrung – und überhaupt zu unnahbar.

Plattenbauten im Süden und Villen im Norden

Auch Daniel Friedrich glaubt, dass Scholz „näher dran“ an den Leuten ist. Friedrich betreibt die örtliche Vereinskneipe und serviert Scholz eine Bratwurst. „Er ist sehr seriös, fachlich korrekt und hat eine ruhige Art“, sagt Friedrich. Er rechnet es dem Finanzminister an, dass die Hilfen für seine geschlossene Gastronomie während des Lockdowns angekommen seien.

Aber was heißt eigentlich „nah dran“ sein in einer Stadt, die so unterschiedlich ist? Die Plattenbauten im Süden stehen im Kontrast zu den Villen im Norden, wo beispielsweise die Moderatoren Günther Jauch, Sänger Herbert Grönemeyer und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner wohnen. Und die Biografien vermischen sich aus DDR-Vergangenheiten und gestressten Zugezogenen, die der Hauptstadt entkommen wollen, aber eine gute Anbindung nach Berlin benötigen.

Und dann ist da noch das Umland. Olaf Scholz ist zu Gast in der Kulturscheune im kleinen Ort Ferch, malerisch am See gelegen. Rund 80 Besucher sind gekommen, 90 Minuten lang stellt sich Scholz den Fragen der Bürger, holt dabei oft weit aus, gibt viele Versprechen ab. Und doch weicht er auch aus. Etwa als die 17-jährige Johanna Vitzthum, die im September erstmals wählen darf, ihn nach Rüstungsexporten fragt.

Scholz weicht Frage einer 17-Jährigen aus

Scholz schlägt Bogen, spricht über Amerika und die EU. Warum deutsche Waffen in anderen Kriegsgebieten landen, beantwortet er nicht. Und kann trotzdem überzeugen. „Sehr sympathisch und nahbar“ habe Scholz gewirkt, sagt Vitzthum, auch wenn er ihrer Frage nicht ganz zufriedenstellend beantwortet habe. Sie rechnet damit, dass sich Jüngere im Wahlkreis dennoch eher für Annalena Baerbock entscheiden werden, aber bei den anderen könne Scholz mit seiner „authentischen Art“ punkten, meint die Erstwählerin. Auch interessant: Wer ist bei der Bundestagswahl 2021 wahlberechtigt?

Baerbock will neben der jungen Wählerschaft gerade auch die Frauen von sich überzeugen. Der Frauenpolitische Rat Brandenburg hat zur Wahlkampfarena geladen, neben Baerbock und Scholz sind die anderen Kandidatinnen und Kandidaten des Wahlkreises zugegen, unter ihnen die frühere FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg.

Es ist heiß. Hinter der Freiluftbühne des Hans Otto Theaters schippern Ausflugsboote, Yachten, Stand-Up-Paddler und Kanuten vorbei. Auf der Bühne wird über Gewalt gegen Frauen, gerechte Bezahlung, Rente und Abtreibung gestritten. Eine skurrile Szenerie.

Als Baerbock über unterschiedliche Bezahlung zwischen den Geschlechtern spricht, treibt ein rosa Flamingo-Tretboot hinter der Bühne entlang. Und als Scholz seine Vorstellungen eines Mindestlohns von zwölf Euro erläutert, wird er fast vom Partylärm eines vorbeischippernden Hausbootes übertönt.

Baerbock fordert „Equal Timing“ von Scholz

In der prallen Sonne kommt Scholz ins Schwitzen. Was weniger an den Themen liegt, als vielmehr daran, dass er wieder im Anzug erschienen ist. Baerbock ist im schwarzen Jumpsuit luftiger unterwegs. Und setzt immer wieder Spitzen gegen Scholz.

Der SPD-Politiker antwortet oft ausschweifend, schlägt Bögen. Es geht um „Equal Pay“, also um gleiche Bezahlung, unabhängig vom Geschlecht. Es ist ein Thema, das Annalena Baerbock liegt. Sie gibt klare, strukturierte Antworten. Als Scholz wieder einmal die Zeitvorgabe reißt, fordert Baerbock „Equal Timing“, gleiche Zeit bei den Antworten für beide Seiten.

Das Publikum lacht. Und applaudiert, als die Grünen-Spitzenkandidatin sagt, dass sich Ungleichbehandlung dadurch bekämpfen lasse, wenn man sie schon in der Schule thematisierte und die Kinder besser sensibilisiere. Auch Scholz erhält immer wieder Beifall, der Punktsieg aber geht in dieser Runde an Baerbock.

Während Scholz im Anschluss an die Diskussionsrunde Pressestatements abgibt, hockt sich Baerbock zu vier jungen Frauen, die dem Potsdamer Mädchentreff Zimtzicken angehören, spricht mit ihnen über die Jugendorganisation und das Impfen.

Da ist er wieder, der Versuch Nähe auszustrahlen. Gelingt er? „Sie hat viele meiner Fragen beantwortet, 100 Prozent sicher bin ich mir mit der Wahlentscheidung aber noch nicht“, sagt die 19-jährige Erstwählerin Hong Anh Nguyen.

Begeisterungsstürme haben weder Scholz noch Baerbock ausgelöst. Aber sie haben höflichen Applaus erhalten. Und vielleicht passt das auch mehr zur Residenzstadt Potsdam und ihrem Umland, die bald einen neuen Regierungschef oder -chefin beheimaten könnte.